Acqua Mortale
Aufschrift »90 PS«. Es war dasselbe Boot, das Pirri vom Lido aus verfolgt hatte.
Lunau versuchte, gegen die Strömung zu rudern, um wieder den Bug zu erreichen, aber zwischen seinem Boot und dem Lastkahn war kein Platz zum Rudern. Also griff er nach der Bordwand und zog sich langsam flussaufwärts. Die Sandberge verdeckten ihm die Sicht auf die beiden Schiffe, gleichzeitig gaben sie ihm Deckung.
Die weiße Farbe, mit der die Buchstaben auf den Metallrumpf gemalt waren, war rissig und grau, aber ein »L« und ein »K«waren am Ende zu entziffern. Die Zulassungsnummer schob sich allmählich in Lunaus Blickfeld: »FE 326 …«
Etwas lenkte ihn ab. Er sah aus dem Augenwinkel einen orangefarbenen Schimmer. Die Glut einer Zigarette. Der große schlanke Bursche stand über ihm auf einem Sandhaufen und rauchte. Die Zigarette flog in hohem Bogen, gerade erst angeraucht, ins Wasser. Der Mann verschwand hinter dem Sandberg, dafür war auf dem Schwimmbagger jetzt hektischer Betrieb. Die beiden Männer sprangen von Bord und landeten auf dem Sandhaufen. Der Schwimmbagger war jetzt führerlos.
Lunau wollte sich mit seinem Nachen abstoßen, aber plötzlich schwankte das Boot, die Bugspitze hob sich. Jemand war in Lunaus Rücken an Bord gesprungen. Und da spürte er auch schon den Unterarm, der gegen seine Kehle drückte. Er wollte mit dem Ruder den Kopf des Angreifers treffen und schlug nach hinten, aber man drehte ihm den Arm um, das Ruder klatschte ins Wasser. Seine Schulter jaulte. Er wollte nach unten aus dem Griff tauchen, aber die zwei waren stärker als er. Lunau warf sich absichtlich nach links und rechts, um die Sandola umzukippen, aber auch das klappte nicht. Man hatte ihn an den Händen gefasst und zog ihn auf den Lastkahn. Sein Rücken schabte über die rostige Bordwand.
Lunau wurde auf den Sandberg geworfen, war aber im Nu wieder auf den Beinen. Sie umringten ihn zu viert. Er musste sich den Schwächsten suchen, eine Lücke reißen und ins Wasser springen.
Der schmächtigste Mann war um die sechzig. Er trug eine Schiebermütze, hatte einen Schnauzbart. Es war Mario, der Vorarbeiter aus Zappaterras Sandgrube. Und auch die beiden jungen Hünen waren da. Sie trugen dieselben Overalls wie an dem Abend, als Lunau angefahren wurde. Nur den schlanken jungen Mann, der die Zigarette geraucht hatte, sah Lunau zum erstenMal. Marios Augenlider hatten sich zu Schlitzen verengt. Er stand sprungbereit, in der rechten Hand einen Schraubschlüssel. Einer der beiden Riesen ließ plötzlich eine Kette schwingen.
Lunau ließ sein Bein nach oben schnellen, drehte sich auf dem Standfuß und im Becken und traf Mario seitlich am Kopf. Dieser Drehtritt war eine der Techniken, die Lunau noch zuverlässig beherrschte, auch wenn seine Muskeln nicht mehr so dehnfähig waren wie früher. Mario rappelte sich aber wieder auf. Lunau war mit dem Standbein in den feuchten Sand eingesunken und versuchte, an die Reling zu kommen. Eine Kette traf ihn auf der Schulter, der Schmerz schoss wie Eiswasser über seine Brust. Aber er jagte auch Unmengen Adrenalin in Lunaus Blut. Er merkte erst nachträglich, dass ihn ein Reflex gerettet hatte: In Sekundenbruchteilen hatte er das Surren der Kette wahrgenommen, den Kopf zur Seite gerissen und das Ende auf seiner Brust gefasst. Er wollte den Angreifer von den Beinen holen, riss an der Kette, aber sie fühlte sich an, als wäre sie an einer Betonwand befestigt. Den zweiten Schlag hatte er nicht mehr kommen hören. Er hatte nur das Gefühl, man habe die Haut quer über seinem Schädel aufgetrennt, es knallte in seinem Ohr, heiße Flüssigkeit lief an seinem Hals hinab, und dann wurde es schwarz um ihn. Ehe er ohnmächtig wurde, dachte er noch an das Mikro, das er am Körper trug und das bei dem Höllenlärm der Motoren völlig nutzlos war.
Das Erste, was er schmeckte, waren Sand und Blut zwischen den Zähnen. Auf dem rechten Ohr hörte er nur einen Pfeifton. Er lag auf dem Bauch und konnte sich nicht bewegen. Bis auf den Kopf. Er drehte ihn langsam zur Seite und sah die Silhouette von drei Männern. Sie gestikulierten und schrien. Mario war nicht zu sehen.
Lunau musste gegen den Wunsch ankämpfen, wieder einzuschlafen.Er war todmüde, und wenn er einschlief, dann spürte er wenigstens nicht mehr die Schmerzen in Kopf und Schulter.
Aber er musste irgendwie an sein Mobiltelefon kommen. Es steckte in seiner linken Gesäßtasche. Er versuchte, zwei Finger hineinzuschieben. Vielleicht reichte sogar ein Finger.
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