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Acqua Mortale

Acqua Mortale

Titel: Acqua Mortale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Foersch
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schlug Lunau die Faust auf den Solar Plexus. Der Schmerz nahm Lunau die Luft.
    Sie hatten ihn bäuchlings auf die Reling gelegt. Der kalte Eisenhaken schob sich zwischen seine Handgelenke.
    »Ihr werdet alle in den Knast gehen«, schrie Lunau. »Der Einzige, der nicht bezahlen wird, ist Zappaterra.«
    Mario zuckte zusammen und mahlte mit seinen Kiefern. Der Name Zappaterras hatte ihm Eindruck gemacht.
    »Was weißt du von Zappaterra?«
    »Für ein paar Kröten macht ihr jede Drecksarbeit. Am Ende zahlt ihr allein die Zeche.«
    Mario kam näher und zischte: »So ist die Welt nun mal eingerichtet. Wer kein Geld hat, zahlt für die anderen die Zeche.« Er grinste und fügte hinzu: »Zumindest wenn er sich dämlich anstellt.« Er trat Lunau in die Flanke, woraufhin dieser von der Reling rutschte. Instinktiv krümmten sich seine Finger, suchtennach einem Halt, den sie nicht fanden. Sein Magen rutschte nach oben, wie in einem anfahrenden Aufzug , und dann rauschte auch schon das Wasser eiskalt unter seine Kleider, es presste sich brausend in die Gehörgänge und gegen seine Ohrplugs.

TEIL IV

60
    German Zueggeler spürte ein Schwindelgefühl, als er hinab in die Schlucht blickte. Und er fühlte sich verhöhnt von seinem Schöpfer. Höhenangst. Er! Der er in den Bergen geboren worden, aufgewachsen und alt geworden war. Nie hatte er sich beklagt über sein Schicksal als Bergler, er hatte es angenommen in demütiger Gottesfurcht. Er hatte im Frühling das Milchvieh auf die Alm getrieben und sich mit dem ersten Oktoberschnee wieder ins Tal begeben. Er hatte die sanften Matten erwandert und die Wände erklettert. Er hatte jeden Stein erfühlt, Wind und Wolken zu deuten gelernt. Er hatte die Berge angenommen und geliebt. War der beste Kletterer seiner Generation geworden. Er hatte den Zueggeler-Knoten erfunden, mit dem sich Reepschnüre an die dicken Hanfseile binden und mit einem Handgriff wieder lösen ließen. Er hatte alle Dolomitengipfel bezwungen, in den Chroniken des internationalen Alpinismus war er mit vier Erstbesteigungen eingetragen, unter anderem für die Alleingänge auf den Cima della Madonna und die Guglia di Brenta . Dass er im hohen Alter nicht mehr so flink und kräftig sein würde, das hatte er immer gewusst, aber Höhenangst, das war zu viel.
    Er schaute noch einmal hinab, sah das Wasser als kleines, zersplittertes Band blinken, und wieder verschwamm das Bild und kippte weg, die Luft schien um sein Haupt zu wirbeln. Ich tauge zu nichts mehr, nicht einmal mehr zum Ziegenhüten, dachte er.
    Aber wenn der Herr es darauf anlegte, dann sollte er es so haben. Dann sollte er ihn sich holen! Zueggeler klammerte sich mit beiden Händen am Fels fest und tastete mit einem Fuß in die Tiefe. Als er einen Tritt gefunden hatte, löste er eine Hand, griff um, dann lösteer die andere. Wie in Trance führte er die Bewegungen aus, der Schwindel war verschwunden. Er hielt den Blick starr nach oben gerichtet, auf die neue Brücke, über die der Zugverkehr Richtung Brenner rollte. Von unten kam wieder das Meckern des Zickleins. Es klang unendlich fern. Zueggeler konzentrierte sich auf den sturen Ablauf der Bewegungen, auf den Klang der Steine, die seine Fußspitzen berührten. Kalk war tückisch, er ragte als vermeintlich bequemer Standplatz aus einer Wand, trug die Belastung von einem erwachsenen Mann, um dann plötzlich in Brösel zu zerfallen, die dem Abstürzenden wie zum Spott hinterhertrudelten. In seiner aktiven Zeit hatte Zueggeler 167 Verunglückte geborgen, 52 davon tot.
    Von dem schmalen Felspfad bis auf den Grund der Schlucht waren es 136 Höhenmeter. German hätte dazu früher eine Stunde gebraucht. An diesem Augusttag 1945 wurden es sieben. Es war früher Nachmittag, als er mit den Lederstiefeln im klaren Felswasser stand und ein letztes Mal hinauf zur Brücke sah, am ganzen Leib vor Erschöpfung zitternd. Die Sonne rutschte gerade hinter den Stahlträgern hervor. Für den kurzen Weg bis zur Felskante würde sie nur zwei Stunden brauchen, dann würde die Wand im Schatten liegen, einige Stunden später in der Finsternis. Der Aufstieg war heute, vorausgesetzt er fand das Zicklein, nicht mehr zu schaffen. Wenn er in der Wand von der Nacht überrascht wurde, war das sein sicherer Tod.
    Er trank von dem klaren, kalten Wasser und lauschte in das Brausen des Gebirgsbachs. Das Meckern kam aus dem Gestrüpp hinter einer Felsnase. Zueggeler balancierte auf den glitschigen Kieseln und sah das weiße Fell inmitten

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