Acqua Mortale
fleischiger Blätter. Das Tier war in ein weiches Bett aus Wasserpflanzen und Reisig gefallen. Es zuckte mit dem Kopf, als wollte es sich erheben, aber irgendetwas hielt es zurück. Zueggeler war über ihm und drückte die kleine warme Schnute an seine Wange. Ziegen waren die launischsten, zähestenund klügsten Wesen, die er kannte. Divenhafter als Katzen und verschlagener als Hyänen. Und sie kletterten besser als der junge Zueggeler.
Er formte seine Hand zur Schale, schöpfte aus dem Bach und ließ das Zicklein trinken. Doch als er sich mit dem Rücken an die Felswand lehnte, fiel sein Blick auf das Nest, in dem das Tier lag. Nicht allein das Blattwerk hatte den Sturz abgefangen, sondern ein grau-grüner Brei. German griff hinein. Aufgequollene Pappe und Papier. Dazwischen Büroklammern und die Bügel von Aktenordnern. In den Mäandern des Baches lagen Dutzende Kisten mit dem Reichsadler, der ein Hakenkreuz in den Klauen hielt. Die Kisten waren teilweise aufgeplatzt, andere unversehrt.
Sie waren auf dem Weg ins Deutsche Reich gewesen, als sie von der Brücke gefallen waren. Bei einem Eisenbahnunglück? Einem Anschlag von Partisanen? Warum auch immer – irgendwer wollte nicht, dass sie gefunden wurden. Wahrscheinlich die Deutschen.
German hieß nicht zufällig German. Seine Familie hatte immer nur Deutsch gesprochen und Deutsch gedacht. Und als man ihr Heimatdorf 1919 an die Italiener verramschte, hatten die Zueggelers mit der Politik abgeschlossen. Dass jetzt auch noch der Zweite Weltkrieg verloren war, hieß für German Zueggeler: Er würde in italienischer Erde begraben werden. Das war fast so schlimm wie die Höhenangst.
Er nahm eine der zerborstenen Kisten, die das Bachwasser nicht erreicht hatte. Er zog einen Aktenordner heraus und fing zu lesen an. Die Rede war von Denunziationen, Verhaftungen, Vergeltungsaktionen. »Repressive Schutzmaßnahmen gegen terroristische Elemente in der Zivilbevölkerung.« »Unterbindung des Bandenwesens im Flachland.« German Zueggeler liebte die Ordnung, Sauberkeit und Korrektheit, die aus der Form dieser Akten sprach.
Die Sonne nahm einen warmen Orangeton an, während die Schatten sich langsam durch die Schlucht fraßen. Es wurde langsamzu dunkel zum Lesen. Germans Augen tränten. Er streichelte mechanisch dem Zicklein übers Fell und dachte an die drei Banditen, die er an einem Frühlingstag auf seiner Alm entdeckt hatte. Er hatte sie angezeigt. Drei Tage später hingen sie auf dem Dorfplatz an der Pestsäule. Waren das tatsächlich Partisanen gewesen? Wie sie ihm gegenüber behauptet hatten?
Wenn er aufrichtig war, dann hatte er es damals schon gewusst. Er hatte sich eingeredet, dass es ganz gewöhnliche Tagediebe und Herumtreiber waren. Auch nachdem er die beiden Karabiner gefunden hatte.
Die Akten waren nach Provinzverwaltungen geordnet, aber zu Bozen fand er nichts. Je mehr Rapporte German Zueggeler las, desto größer wurde das Gefühl der Scham in ihm. Er sah die ausgemergelten, verschreckten Gesichter der drei jungen Burschen vor sich. Und die angsterfüllte Fratze mit den aufgerissenen Augen, die sie nach ihrer Hinrichtung zeigten. Dies war die Wirklichkeit, die hinter den korrekten Formulierungen stand: »07. April 1945: Zeuge Ettore Gasparotto, wohnhaft in Ferrara, gibt an, dass der Halbpachtbauer Lorenzo Dandini Saboteuren Unterschlupf gewährt. Direkte Beteiligung an wehrkraftzersetzenden Aktivitäten wahrscheinlich. Identität der Saboteure unbekannt.«
German Zueggeler schlug die Akte zu und schob die Kiste unter einen Felsvorsprung. Dann sammelte er trockene fleischige Blätter, die er zu einer glatten Unterlage ausbreitete. Er suchte das Bachufer nach weiteren Kisten ab und fand zwei Aktenordner mit Stellungsbefehlen. Sie waren unwichtig genug, um vernichtet zu werden. Er polsterte sein Lager mit den Papieren, auf denen Männer an die Ostfront, nach Afrika oder nach Skandinavien beordert wurden. Er zerschlug die Kisten, sammelte Reisig und Brennholz und legte mit großen Kieseln einen Kreis.
Der Abendhimmel war klar. Es würde nicht regnen, aber kalt werden. German Zueggelers Entschluss stand fest. Er würde seinenFund melden. Und wenn andere seinen Namen lesen würden in den Akten, dann sollte sich auch dieses Schicksal vollenden. Er jedenfalls hatte seinem Schöpfer nichts mehr zu sagen.
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Der Sonnenstrahl stach Lunau genau ins Auge. Durch seinen Schädelknochen lief ein Schmerz, wie auf einer gezackten Bahn. Und dann merkte er, dass dieser
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