Acqua Mortale
ist verschwunden.«
Gasparottos Kopf zuckte auf dem hageren Hals. »Verschwunden?«
Lunau schaute Gasparotto direkt in die Augen. Gasparotto war dieser Blick unangenehm, und so starrte er auf seine Hände, die nach einem Dossier mit Vorschlägen zu Budgetkürzungen griffen. Aber der Besucher verstand den Wink nicht, sondern setzte neu an: »Ihr Mitarbeiter Di Natale hat gestern Abend versucht, mich auf dem Deich zu überfahren, und jetzt ist er verschwunden.«
Gasparotto hatte Mühe, seinen Schrecken zu überspielen. »Sind Sie betrunken?«, sagte er nach kurzem Stocken.
»Nein.«
Lunau gab Gasparotto seine Visitenkarte. Dieser schaute sie lange an.
»Ich verstehe nicht recht. Fernsehen?«
»Radio.«
»Ach so«, sagte Gasparotto, sichtlich entspannter. Erstaunlich, dass jedermann das Radio für etwas Harmloses hielt.
»Es ist natürlich Unsinn, dass Herr Di Natale Sie angegriffen hat. Sie müssen sich irren.«
»Das sagt jeder.«
»Sehen Sie.«
»Mir sagt aber auch jeder, er sei bei der Arbeit. Und da ist er nicht.«
Gasparotto seufzte, drückte auf eine Taste des Telefons, fragte seine Sekretärin nach Di Natale und wiederholte deren Angaben: »Er ist noch nicht zur Arbeit erschienen.«
Lunau machte auf dem Absatz kehrt und sagte: »Würden Sie Ihre Sekretärin bitten, mich zu verständigen, sobald sie Nachricht von Di Natale hat?« Es klang ironisch, aber Gasparotto nickte.
21
Pirri hätte der glücklichste Mensch der Welt sein müssen. Noch vier Stunden, hundertachtzehn Kilometer, und er war am Ziel. Doch hektisch suchten seine Augen den Pulk aus schwitzenden, stinkenden, von Alltagssorgen und kleinlichen Sehnsüchten, Telefonaten und dümmlichen Hits aus Mp3-Playern abgelenkten Existenzen ab. Er spähte ängstlich nach einer Uniformmütze, denn auch er wurde von kleinlichen Sorgen getrieben: Er hatte keine Fahrkarte. Pirri hatte die 6,30 Euro für die Zweite Klasse nicht aufbringen können, und als Schwarzfahrer war er nicht geübt. Sollte man sich in den letzten Waggon setzen, oder in den vordersten? Oder, wie in den Filmen, aufs Klo? Aber musste nicht jeder halbwegs intelligente Kontrolleur dort zuerst nachsehen? Der Zug war voll mit Pendlern, die jeden Quadratzentimeter belegten, sitzend, stehend, im Mittelgang auf dem eigenen Gepäck kauernd. Der Plebs bekam dadurch sogar einen Sinn: als Barriere für den Zugbegleiter. Aber wenn er kam – wie sollte Pirri sich dann unauffällig davonstehlen? In seinem Anzug und dem teuren Staubmantel, mit dem ledernen Aktenkoffer und seinen grauen Locken wirkte er wie ein seriöser Geschäftsmann. Er würde in sämtlichen Taschen nach dem Fahrschein suchen und das Ganze schließlich als peinliche Unachtsamkeit abtun. Er holte das Pokerblatt aus der Tasche und ließ die Karten durch seine Finger gleiten. Pirri liebte jede Form von Spiel, er war mit der Zeit gegangen und hatte früh die Chancen im Online-Poker erkannt, aber nichts konnte das prickelnde Gefühl ersetzen, dasvon echten Karten ausging, von diesen kartonierten Bildern, die sich an den abgerundeten Ecken rau und widerspenstig anfühlten, auf der Oberfläche kalt und glatt.
Wieder klingelte sein Handy. Immer dieselbe ausländische Nummer. Diesmal nahm Pirri das Gespräch an. Es war Lunau, der Journalist aus Deutschland. Auf der Suche nach Vito Di Natale.
»Ich verstehe nicht, wie ich Ihnen helfen kann«, sagte Pirri.
»Di Natale ist verschwunden. Sie sind sein bester Freund.«
»Wir haben Tennis miteinander gespielt.«
»Auch gestern Abend, oder?«
»Nein, gestern nicht.«
»Aber Sie waren doch zum Tennis verabredet.«
»Ja, aber dann hat Vito abgesagt.«
»Wo waren Sie gestern Abend?«
Pirri schwieg. Die Schiebetür zur Zwischenplattform ging auf, eine Uniform drängte sich in den Waggon. Aber es war nur ein Carabiniere, mit Wochenendgepäck.
»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen zu Auskunft verpflichtet bin.«
»Man hat Sie gestern zusammen gesehen.«
»Unmöglich. Vito hat das Tennis wegen eines anderen Termins abgesagt.«
»Was für ein Termin war das?«
»Keine Ahnung.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?
»So gegen siebzehn Uhr.«
»Da können Sie ihn nicht gesehen haben, er war mit mir unterwegs.«
»Nicht direkt gesehen. Wir haben telefoniert.«
»Ich kann mich an kein Telefonat mit Ihnen erinnern.«
»Dann haben Sie es eben vergessen.«
Lunau zögerte einen Moment. Dann fragte er: »Danach hatten Sie keinen Kontakt mehr zu ihm?«
»Nein. Das sagte ich doch
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