Acqua Mortale
bereits.«
»Um 19 Uhr 40 hat man gesehen, wie Sie ihn mit Ihrem weißen BMW-Geländewagen abgeholt haben. Es gibt einen Zeugen.«
»Wer soll das sein?«
»Frau Di Natale.«
Pirris Hirn spielte verrückt. Er konnte sich auf einmal an keine Uhrzeit mehr erinnern. 19 Uhr 40. Was sollte er sagen? Sollte er überhaupt etwas sagen? Wenn er nicht so angstvoll auf die Schiebetür gestarrt hätte, wäre er auf das Gespräch gar nicht eingegangen.
»Sie irrt sich.«
Pirri wollte auflegen, aber der Mann kam ihm mit der nächsten Frage zuvor.
»Sind Sie jetzt mit Di Natale zusammen?«
»Wie kommen Sie darauf ?«
»Sie sind heute nicht zur Arbeit erschienen. Niemand weiß, wo Sie stecken. Dasselbe gilt für Di Natale. Wohin sind Sie unterwegs?«
Der Zug bremste so heftig, dass Pirris Pilotenkoffer ins Rutschen kam. Das Quietschen übertönte jedes Geräusch aus dem Handy.
»Ich bin Ihnen zu keiner Auskunft verpflichtet.«
»Sind Sie nicht, aber wenn Sie Ihrem besten Freund helfen wollen, dann sollten Sie meine Fragen beantworten.«
Der Zug stand nun, Lautsprecherstimmen schallten. Der Mittelgang leerte sich, und dann tröpfelten die ersten neuen Fahrgäste in den Waggon, belegten hektisch die freien Sitzplätze und verstauten ihr Gepäck in den Ablagen und zwischen den Sesseln.
»Sie sitzen im Zug?«
»Ja, wissen Sie … aus ökologischen Gründen.«
»Wenn es nach der Ökologie geht, sollte man zu Hause bleiben.«
Pirri lachte. »Ja, da haben Sie auch wieder recht.«
Und dann drückte er das Gespräch weg. Es strömten immer mehr Leiber in den Mittelgang. Pirri sah immer wieder die Gestalt Di Natales vor sich. Den ungläubigen Ausdruck auf seinem Gesicht. Aber dann entdeckte Pirri die Uniformmütze, die durch die Schiebetür der Waggonschleuse kam. Vielleicht konnte Pirri es noch schaffen, den Zug zu verlassen. Aber dann hing er hier auf dem Bahnhof fest.
Der Kontrolleur hatte angefangen, sich die Karten zeigen zu lassen und knipste sie bedächtig mit seiner Zange ab. Der Zug ruckte an. Es war zu spät. Pirri würde schauspielern müssen.
22
Das Lokal, in dem sie saßen, war voll mit parfümierten jungen Leuten. An den Wänden hingen Flachbildschirme, aus denen grelle Videoclips pulsierten. Lunau bereute, dass er Amanda die Wahl des Treffpunkts überlassen hatte. Die Gläser gluckerten ins Spülbecken, jemand schlug den Filter der Espressomaschine auf die Kante des Mülleimers, die Tür zur Toilette krachte, neben Lunau brüllten zwei Angetrunkene einander Zoten ins Ohr, und darunter wummerte ein Brei von Hiphop-Bässen. Mit jeder Runde, die auf den Tresen geknallt wurde, nahm der Geräuschpegel der Gäste zu.
Lunau war froh, als er Amanda erkannte. Sie hatte wieder die Irokesenfrisur, schwarz geschminkte Lider und Lippen. Ihre Wangen glühten, sie strahlte euphorisiert und schien sofort sensationelleNeuigkeiten loswerden zu wollen. Lunau dagegen hatte eine Serie von Fehlschlägen hinter sich. Er war mit Balboni auf dem Deich gewesen und hatte nur ein paar Bremsspuren gefunden, die nicht unbedingt vom Vortag stammen mussten. Keine Lacksplitter oder Hinweise auf einen bestimmten Wagen, nicht einmal Hinweise auf eine Kollision. An Pirris Villa, einem schmucken Bau aus der Ära des Faschismus, war er unhöflich abgewiesen worden. Er hatte auch kein Auto im Hof entdecken können, weder einen blauen Punto noch einen weißen BMW. Auch die Nachbarn hatten kein Wort gesagt. Ebenso wenig die Kollegen bei der AIPO, dem Deichbauamt, das Pirri leitete.
Amanda hatte einen Abriss geschrieben, den sie Lunau vorlas:
»Beppe Pirri, Spross einer der renommiertesten Patrizierfamilien Ferraras. 56 Jahre alt, ältester Sohn Aroldo Pirris, eines vor fünfzehn Jahren verstorbenen ehemaligen Partisanenführers und Politikers. Nach dem Krieg Stellvertretender Bürgermeister in Ferrara, dann Abgeordneter in Rom und schließlich Senator. Sorgte dafür, dass der staatliche Chemiekonzern in Ferrara eines der wichtigsten Werke baute, Arbeitsplätze und Wohlstand brachte. Sein Sohn Beppe hat in Bologna studiert, danach Ingenieur beim ›Genio Civile‹, einer Art Katastrophenschutz, der den Fluss überwachen sollte. Später umgewandelt in die ›AIPO‹, die ›Agenzia Interregionale Fiume Po‹. Damit wollte man verhindern, dass jede Region auf eigene Faust am Fluss herumdokterte und man wieder hinter Napoleon zurückfiel. Pirri gilt als einer der weitsichtigsten Köpfe der AIPO, als ein Mann der überregionalen Zusammenarbeit,
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