Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Mörder verfaßt hatte, nämlich über Hawley Harvey Crippen, Norman Thorne und Patrick Mahon. Ackroyd hatte ihm seinerzeit ein signiertes Exemplar geschickt, und Dalgliesh, der es auch brav gelesen hatte, war beeindruckt gewesen von den sorgfältigen Recherchen und der noch sorgfältigeren Schreibe. Ackroyds nicht eben brandneue These lautete, alle drei seien unschuldig in dem Sinne, daß keiner seine Opfer vorsätzlich getötet habe, und er hatte dafür plausible, wenn auch nicht ganz überzeugende Argumente geliefert, die sich auf eine detaillierte Untersuchung der gerichtsmedizinischen Gutachten stützten. Dalgliesh hatte aus dem Buch vor allem die Empfehlung herausgelesen, ein Mordangeklagter, der freigesprochen werden wolle, möge es tunlichst vermeiden, seine Opfer zu zerstückeln, eine Praxis, gegen die britische Geschworene immer wieder den heftigsten Widerwillen bekundet haben.
Sie hatten sich vor dem Lunch in der Bibliothek auf einen Sherry verabredet. Ackroyd war schon da und hatte sich in einem der hochlehnigen Ledersessel niedergelassen. Für einen Mann seiner Größe erhob er sich jetzt erstaunlich flink und kam Dalgliesh mit kleinen, ja fast tänzelnden Schritten entgegen. Er sah nicht die Spur älter aus als an dem Tag, da sie sich kennengelernt hatten.
»Danke, daß Sie sich die Zeit genommen haben, Adam«, sagte er. »Ich weiß ja, wie beschäftigt Sie im Augenblick sind. Sonderberater des Polizeipräsidenten, Mitglied der Spezialeinheit zur regionalen Verbrechensbekämpfung und hin und wieder ein echter Mordfall, damit Sie nicht aus der Übung kommen. Daß Sie sich nur nicht überarbeiten, mein lieber Junge! Jetzt werde ich erst mal nach dem Sherry läuten. Eigentlich wollte ich Sie in meinen anderen Club einladen, aber Sie wissen ja selbst, dort zu speisen ist zwar eine gute Gelegenheit, den Leuten zu zeigen, daß man noch lebt, nur wird man dann von lauter Clubmitgliedern bestürmt, die einem zu eben diesem Glück gratulieren wollen. Wir essen übrigens unten im kleinen Nebenzimmer.«
Ackroyd, der sich als schon recht betagter Junggeselle überraschend doch noch verheiratet hatte, was damals unter seinen Freunden zu Erstaunen, ja Bestürzung Anlaß gab, lebte nun in ehelicher Selbstgenügsamkeit in einer hübschen Gründerzeitvilla in St. John’s Wood, wo und er Nelly Ackroyd sich neben Haus und Garten noch ihren beiden Siamkatzen widmeten sowie Ackroyds größtenteils eingebildeten Krankheiten. Er war Besitzer, Herausgeber und, vermöge stattlicher Privateinkünfte, auch Finanzier von The Paternoster Review, jener ikonoklastischen Mischung aus Essays, Rezensionen und einer Klatschkolumne, die stets sorgfältig recherchiert und bisweilen dezent, öfter jedoch ebenso bösartig wie treffsicher formuliert war. Wenn Nelly sich nicht um die Hypochondrie ihres Mannes kümmern mußte, dann sammelte sie mit Begeisterung Schulgeschichten von Mädchen aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Es war eine glückliche Ehe, auch wenn Conrads Freunde immer noch Gefahr liefen, sich nach den Katzen zu erkundigen, bevor sie fragten, wie es Nelly ging.
Bei seinem letzten Besuch in der Bibliothek des Cadaver Clubs war Dalgliesh dienstlich gekommen und hatte Informationen einholen wollen. Aber da war es auch um Mord gegangen, und es hatte natürlich auch keinen Sherry gegeben. Ansonsten schien sich wenig verändert zu haben. Die Fenster gingen nach Süden, auf den Platz hinaus, und an diesem Morgen schien die Sonne so warm durch die dünnen weißen Vorhänge, daß man fast auf das kleine Feuer im Kamin hätte verzichten können. Ursprünglich hatte sich hier der Salon befunden, doch jetzt diente das Zimmer gleichzeitig als Aufenthaltsraum und Bibliothek. An den Wänden reihten sich Bücherschränke aus Mahagoni, welche die wohl umfassendste kriminalistische Privatsammlung ganz Londons enthielten, darunter die vollständige Ausgabe der Reihen Bedeutende Prozesse Großbritanniens und Berühmte Gerichtsverhandlungen, sowie Standardwerke der Gerichtsmedizin, Studien zur forensischen Pathologie und ihren Richtlinien nebst einigen Erstausgaben, die der Club von Conan Doyle, Poe, Le Fanu und Wilkie Collins besaß, welch letztere aber, wie um die angestammte Minderwertigkeit der Literatur gegenüber der Realität zu demonstrieren, separat in einem kleineren Regal untergebracht waren. Die große Mahagonivitrine mit den Raritäten, die der Club im Lauf der Jahre gesammelt hatte oder die ihm gestiftet worden waren, stand
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