Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
baten – hatten Sie da den Eindruck, daß sie sich nur darauf herausredete, es nicht finden zu können, weil sie’s Ihnen nicht geben wollte? Oder kam es Ihnen eher so vor, als befände es sich gar nicht mehr in ihrem Besitz?«
Als ob sie erkannt hätte, wieviel von dieser Frage abhing, überlegte Mrs. Pitt-Cowley sich die Antwort reiflich. Endlich sagte sie: »Wie soll ich das wissen? Aber ich erinnere mich, daß meine Bitte sie verstört hat. Sie kam mir recht nervös vor. Und es ist schwer vorstellbar, daß sie das Manuskript tatsächlich verlegt hatte. Mit Dingen, die ihr wichtig waren, ist sie sonst nie schlampig umgegangen. Und die Wohnung hier ist ja auch nicht so groß, daß leicht etwas abhanden kommen könnte. Außerdem hat sie sich gar nicht die Mühe gemacht, nach ihrer Kopie zu suchen. Also wenn ich raten sollte, dann würde ich sagen, sie hatte das Manuskript überhaupt nicht mehr.«
53
Als sie zum Wagen zurückkamen, sagte Dalgliesh: »Ich fahre, Kate.«
Wortlos stieg sie auf der linken Seite ein und schnallte sich an. Sie fuhr gern selbst und wußte, daß sie auch eine gute Autofahrerin war, aber wenn Dalgliesh, wie eben, ausdrücklich ans Steuer wollte, dann war sie es zufrieden, still neben ihm zu sitzen und gelegentlich die kräftigen und doch so sensiblen Hände zu beobachten, die leicht und wie selbstverständlich auf dem Lenkrad lagen. Als Kate jetzt – sie überquerten gerade die Hammersmith Bridge – rasch zu ihm hinüberguckte, sah sie auf seinem Gesicht einen Ausdruck, den sie inzwischen gut kannte: ernst, verschlossen, in sich gekehrt, als erdulde Dalgliesh stoisch einen Schmerz, den er unbedingt mit sich allein abmachen wollte. Nur ganz zu Anfang, als Kate neu in sein Team gekommen war, hatte sie hinter diesem Blick unterdrückten Zorn vermutet und vor dem plötzlich zubeißenden Sarkasmus gezittert, der, so nahm sie damals an, einer seiner Abwehrmechanismen gegen mangelnde Disziplin war und den seine Untergebenen zu fürchten gelernt hatten.
In den letzten zweieinhalb Stunden hatten sie entscheidendes Beweismaterial gesammelt, und Kate hätte liebend gern gewußt, wie er darauf reagierte, aber sie hütete sich, das Schweigen zu brechen. Dalgliesh’ Fahrweise war ruhig und konzentriert wie immer, und es fiel schwer zu glauben, daß er mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache war. Sorgte er sich vielleicht um die Verletzbarkeit dieses Kindes, während er im Geiste zugleich die Anhaltspunkte Revue passieren ließ, die es ihnen geliefert hatte? Unterdrückte er verbissen seine Empörung über die vorsätzliche Grausamkeit von Esme Carlings Tod, ein Tod, von dem sie jetzt mit Sicherheit wußten, daß es Mord gewesen war?
Bei einem anderen Vorgesetzten hätte dieser verschlossene, in sich gekehrte Blick auch bedeuten können, daß er sich über Daniels Inkompetenz ärgerte. Wenn Daniel dem Kind die Wahrheit über den Verlauf jenes Donnerstagabends abgetrotzt hätte, dann wäre Esme Carling jetzt vielleicht noch am Leben. Aber konnte man ihm wirklich Inkompetenz vorwerfen? Die Carling und das Kind hatten bei der Befragung beide die gleiche Geschichte erzählt, eine Geschichte, die obendrein noch ganz überzeugend klang. Und Kinder waren in der Regel verläßliche Zeugen, die nur sehr selten logen. Falls man Kate geschickt hätte, um Daisy zu verhören, hätte sie es besser gemacht? Ja, hätte sie es heute vormittag besser gekonnt, wenn Dalgliesh nicht dabeigewesen wäre und eingegriffen hätte? Kate bezweifelte, daß Dalgliesh ein Wort des Tadels äußern würde, aber das würde Daniel wohl nicht davon abhalten, sich selbst die Schuld zu geben. Sie war von Herzen froh, daß sie nicht in seiner Haut steckte.
Sie hatten die Hammersmith Bridge schon hinter sich gelassen, als Dalgliesh endlich das Wort ergriff.
»Ich glaube, Daisy hat uns alles erzählt, was sie weiß, aber die Lücken sind schon frustrierend, nicht? Dieses eine fehlende Wort hätte der Geschichte doch eine völlig andere Wendung gegeben. Die Schlange vor der Tür – welche Tür? Und die Carling hörte eine Stimme – eine Männer- oder eine Frauenstimme? Jemand hat einen Staubsauger getragen – wer? Mann oder Frau? Aber wenigstens brauchen wir uns jetzt nicht mehr allein auf die Unglaubwürdigkeit dieses angeblichen Abschiedsbriefes zu stützen, um den Fall als Mord einzustufen.«
In der Einsatzzentrale in Wapping war außer Daniel niemand mehr. Kate, die ihm die peinliche Situation erleichtern wollte, hätte ihn
Weitere Kostenlose Bücher