Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
sie kannte, nicht geändert), das fröhliche, wettergegerbte Gesicht. Ein verständiges Gesicht, wie man so sagt. Das verständige Gesicht einer verständigen Frau, einer von Barbara Pyms großartigen Frauen etwa, nur daß ihr die Sanftmut und Zurückhaltung einer Barbara-Pym-Heldin fehlten, wenn sie mit nachgerade schonungsloser Nächstenliebe den Problemen des Dorfes, angefangen vom Trauerfall in der Nachbarschaft bis hin zu aufsässigen Chorknaben, zu Leibe rückte. Pflicht und Vergnügen waren in ihrem Leben so streng geregelt wie das Kirchenjahr, das ihrem Dasein Halt und Ziel gab. Auch Blackies Leben hatte einmal Halt und Ziel gehabt. Aber jetzt kam es ihr vor, als hätte sie nichts mehr im Griff, weder ihr Privatleben noch ihre Arbeit, geschweige denn ihre Gefühle, und als wäre bei Henry Peverells Tod ein wesentlicher Teil von ihr mit ihm gestorben.
Auf einmal hörte sie sich sagen: »Joan, ich glaube nicht, daß ich’s bei Peverell noch lange aushalten kann. Gerard Etienne wird langsam unerträglich. Nicht einmal seine Privatgespräche darf ich annehmen. Sie gehen über einen Extraanschluß direkt in sein Büro. Mr. Peverell ließ unsere Tür immer angelehnt, mit Hissing Sid, du weißt schon, diese Anti-Zugluft-Schlange, also mit der hab’ ich sie offengehalten. Bei Mr. Gerard muß die Tür geschlossen bleiben, und er hat sogar noch einen hohen Schrank vor die Glaswand rücken lassen, damit er mehr Privatsphäre hat. Das war nicht sehr rücksichtsvoll. Jetzt bekomme ich noch weniger Licht. Und nun soll ich auch noch die neue Aushilfe, diese Mandy Price, bei mir unterbringen, obwohl die doch ihre ganze Arbeit von Emma Wainwright, Miss Claudias Sekretärin, zugeteilt kriegt. Also sollte sie eigentlich auch bei Emma im Zimmer sitzen, nicht? Mein Büro ist schon für eine Person zu eng, seit Mr. Gerard die Trennwand hat versetzen lassen. Mr. Peverell hätte nie einen Raumteiler geduldet, der das Fenster und die Stuckdecke des ehemaligen Speisezimmers halbiert. Er mochte die Trennwand sowieso nicht und hat sich von Anfang an dagegen gesträubt.«
»Kann denn seine Schwester nichts machen?« fragte ihre Cousine. »Warum sprichst du nicht mal mit ihr?«
»Ich möchte mich nicht gern beschweren. Schon gar nicht bei ihr. Außerdem, was könnte sie schon dagegen machen? Mr. Gerard ist Geschäftsführer und Vorsitzender der Peverell Press. Er ruiniert den Verlag, aber von den anderen Gesellschaftern kann sich keiner gegen ihn behaupten. Ich weiß nicht mal, ob sie das überhaupt wollen, außer vielleicht Miss Frances, und auf die hört er bestimmt nicht.«
»Dann kündige eben. Du bist doch nicht auf die Arbeit angewiesen.«
»Nach siebenundzwanzig Jahren?«
»Na, das sollte für ein und denselben Job so oder so reichen. Geh in Vorruhestand! Als der alte Mr. Peverell die Pensionskasse für den Verlag einrichtete, da bist du doch beigetreten. Ich fand das sehr klug. Hab’ dir ja auch zugeraten damals, wenn du dich erinnerst. Natürlich würdest du jetzt noch nicht die volle Rente kriegen, aber ein bißchen was käme schon zusammen. Du könntest dir aber auch eine nette kleine Teilzeitbeschäftigung in Tonbridge suchen. Bei deiner Berufserfahrung findest du da bestimmt leicht was. Bloß, warum solltest du überhaupt weiterarbeiten? Wir haben doch unser Auskommen. Und im Dorf gibt’s genug zu tun. Solange du noch bei Peverell bist, hab’ ich nie zugelassen, daß der Pfarrgemeinderat dich einspannt. Meine Cousine, hab’ ich zum Pfarrer gesagt, meine Cousine ist Privatsekretärin und sitzt den ganzen Tag an der Schreibmaschine. Da kann man nicht erwarten, daß sie nach Feierabend und am Wochenende auch noch tippt. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, dich abzuschirmen. Aber wenn du pensioniert wärest, sähe die Sache anders aus. Geoffrey Harding klagt schon lange, daß er sich als Schriftführer überfordert fühlt. Fürs erste könntest du seinen Posten übernehmen. Und dann haben wir ja noch die literarische und die historische Gesellschaft. Die wären sicher auch froh, wenn ihnen eine gelernte Sekretärin zur Hand ginge.«
Joans Worte oder vielmehr das Leben, das sie so präzise beschrieben, jagten Blackie Angst ein. Es war, als hätte die Cousine mit diesen wenigen, scheinbar harmlosen Sätzen eine lebenslange Freiheitsstrafe über sie verhängt. Zum erstenmal wurde ihr klar, welch untergeordnete Rolle West Marling in ihrem Leben eigentlich spielte. Sie hatte nichts gegen das Dorf; weder die Häuserzeilen
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