Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
die Leere im Büro, so leer wie frühmorgens, wenn sie vor ihm zur Arbeit kam, oder wie des Abends, wenn er als erster gegangen war, nur daß jetzt alles, was diesen Räumen Sinn gegeben hatte, endgültig und für immer dahin war. Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Als sie ihn besuchen wollte und sich bei Frances Peverell nach einer günstigen Zeit erkundigte, war sie mit den Worten abgewiesen worden: »Er liegt noch auf der Intensivstation. Nur die Familie und die Gesellschafter dürfen zu ihm. Tut mir leid, Blackie.«
Anfangs hatte das, was aus dem Krankenhaus zu erfahren war, ganz beruhigend geklungen. Es ging ihm besser, viel besser sogar. Man durfte hoffen, daß er bald aus der Intensivstation entlassen werden würde. Und dann, vier Tage nach dem ersten, kam der zweite, massive Infarkt, und er starb. Bei der Trauerfeier hatte sie in der Kapelle drei Reihen hinter den Angehörigen, bei der Belegschaft, gesessen. Niemand hatte sie getröstet; warum auch? Offiziell war sie ja keine der Hinterbliebenen, gehörte sie nicht zur Familie. Und als sie dann draußen angesichts der Kränze nicht mehr an sich halten konnte und zusammengebrochen war, hatte Claudia Etienne ihr einen halb verwunderten, halb gereizten Blick zugeworfen, der besagte: »Wenn seine Tochter und seine Freunde sich beherrschen können, warum dann nicht auch Sie?« Ihre tiefe Trauer war als geschmacklos abgetan worden, ebenso anmaßend wie ihr Kranz, der zwischen den schlichten Sträußen der Familie in der Tat aufdringlich protzig wirkte. Sie hatte Gerard Etiennes Bemerkung zu seiner Schwester nicht vergessen: »Mein Gott, Blackie hat aber maßlos übertrieben. Mit dem Kranz könnte sie ja bei einem Mafia-Begräbnis in New York noch Ehre einlegen. Was bezweckt sie damit? Will sie den Leuten etwa weismachen, sie wäre seine Geliebte gewesen?«
Tags darauf hatten die fünf Gesellschafter seine Asche in einer kleinen privaten Feierstunde von der Terrasse vor Innocent House in die Themse gestreut. Sie war dazu eigentlich nicht eingeladen gewesen, aber Frances Peverell hatte in ihrem Büro vorbeigeschaut und gesagt: »Vielleicht möchten Sie mit raus auf die Terrasse kommen, Blackie. Ich glaube, mein Vater hätte sich gewünscht, daß Sie dabei sind.« Sie hatte sich weit im Hintergrund gehalten, ängstlich darauf bedacht, ihnen nur ja nicht lästig zu fallen. Die fünf hatten in einigem Abstand voneinander hart am Rand der Terrasse Aufstellung genommen. Das weiße Knochenmehl – alles, was von Henry Peverell übriggeblieben war – befand sich in einer Urne, die sie komischerweise an eine Keksdose erinnerte. Die fünf reichten das Gefäß untereinander weiter und entnahmen ihm je eine Handvoll Staub, den sie dann mehr oder weniger beherzt in die Themse warfen. Sie erinnerte sich, daß Hochwasser gewesen war und eine frische Brise wehte. Ockerbraune Wellen hatten gegen die Mole geschlagen und feinen Gischt emporgesprüht. Frances Peverells Hände waren ganz feucht geworden, und Ascheflöckchen hatten sich darauf festgesetzt; hinterher hatte sie sich heimlich die Hände am Rock abgewischt. Sie war sehr gefaßt gewesen, als sie auswendig das Lied aus Cymbeline sprach, das mit den Versen beginnt:
Fürchte nicht mehr Sonnenglut
Noch des Winters grimmen Hohn!
Jetzt dein irdisch Treiben ruht,
Heim gehst, nahmst den Tageslohn.
Blackie hatte den Eindruck, sie hätten versäumt, die Rednerfolge festzulegen; jedenfalls trat eine kurze Pause ein, bevor James de Witt an die Brüstung trat und ein paar Worte aus den Apokryphen sprach. »Die Seelen derer, die da rechtschaffen sind, ruhen in Gottes Hand, allwo kein Peiniger ihnen mehr naht.« Danach hatte er seine Handvoll Asche so zaghaft zwischen den Fingern durchrieseln lassen, als gelte es, jedes Körnchen einzeln abzuzählen.
Gabriel Dauntsey hatte ein Gedicht von Wilfred Owen gelesen, das sie noch nicht kannte. Aber später hatte sie es nachgeschlagen und sich ein bißchen über seine Wahl gewundert.
Ich bin der Geist von Shadwell Stair.
Am Kai beim Wasserturm im Wind
Und durch das Schlachthauslabyrinth,
Als Schatten wandre ich umher.
Und doch bin ich aus Fleisch und Bein,
Hab’ Augen, flackernd wie das Licht
Von Monden, Lampen, das sich bricht
Im Fluß, weht sacht die Nacht herein.
Claudia Etienne hatte mit nur zwei Zeilen den kürzesten Text ausgesucht:
Das Schlimmste, was nach rechtem Walten uns geschieht,
ist eines langen Schlummers ewig gleiches Wiegenlied.
Sie hatte ihren Spruch laut, aber
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