Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
die
natürlich über die Stirn fielen, die auffallenden Augen, die kräftigen,
perfekt geschwungenen Lippen. Doch seine Schönheit war nicht immun
gegen Müdigkeit, Krankheit oder Angst. Schon jetzt gab es Anzeichen für
einen einsetzenden Verfall, nachlassende Vitalität, die Tränensäcke
unter den Augen, die schlaffen Muskeln um den Mund. Aber er sprach klar
und deutlich; vielleicht hatte er sich innerlich auf diese Tortur
vorbereitet.
Er zeigte auf den Herd und fragte: »Kaffee? Tee? Ich habe noch
nicht gefrühstückt. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zuletzt
etwas gegessen habe, aber ich darf ja die Zeit der Polizei nicht
verschwenden. Oder würde eine Tasse Kaffee unter Bestechung fallen?«
»Soll das heißen, Sie sind nicht vernehmungsfähig?«, fragte
Benton.
»Ich bin so vernehmungsfähig, wie es unter diesen Umständen zu
erwarten ist. Sie stecken so einen Mord wohl locker weg,
Sergeant – es war doch Sergeant, oder?«
»Detective Sergeant Benton-Smith und Detective Constable
Warren.«
»Wir übrigen Menschen verarbeiten einen Mord nicht so leicht,
besonders wenn man mit dem Opfer befreundet war, aber Sie tun natürlich
nur Ihre Arbeit, damit kann man ja heutzutage so ziemlich alles
entschuldigen. Ich nehme an, Sie wollen Angaben zu meiner
Person – meinen vollen Namen und meine Adresse, falls die
Westhalls Ihnen nicht schon bereits alles angegeben haben. Ich hatte
eine Wohnung, aber ich musste sie aufgeben – ein paar kleinere
Probleme mit der Miete –, daher wohne ich derzeit bei meinem
Geschäftspartner in Maida Vale.«
Er gab die Adresse an und sah zu, wie Constable Warrens enorme
Hand sie bedächtig im Notizbuch aufschrieb.
Benton fragte: »Was machen Sie beruflich, Mr. Boyton?«
»Schreiben Sie Schauspieler. Ich bin Mitglied im
Schauspielerverband, und wenn sich die Gelegenheit bietet, trete ich
hin und wieder auf. Man könnte mich außerdem als Privatunternehmer
bezeichnen. Ich habe Ideen. Manche funktionieren, manche nicht. Wenn
ich nicht auftrete und keine tollen Ideen habe, helfen mir meine
Freunde aus. Und wenn das nicht klappt, zähle ich auf eine wohltätige
Regierung und die Leistung für Arbeitsuchende, wie es lächerlicherweise
heißt.«
Benton fragte: »Was tun Sie hier?«
»Was meinen Sie mit der Frage? Ich habe das Cottage gemietet.
Ich bezahle dafür. Ich mache Urlaub. Das tue ich hier.«
»Aber weshalb um diese Zeit? Der Dezember gilt wohl kaum als
der günstigste Monat für einen Urlaub.«
Die blauen Augen fixierten Benton. »Ich könnte Sie auch
fragen, was Sie hier tun. Ich sehe eher aus, als wäre ich hier zu Hause
als Sie, Sergeant. Sie hören sich zwar durchaus englisch an, doch Ihr
Gesicht wirkt sehr – wie soll ich sagen – indisch.
Immerhin muss es Ihnen geholfen haben, Arbeit zu finden. Das kann nicht
einfach sein, bei dem Beruf, den Sie gewählt haben – nicht
einfach für Ihre Kollegen, meine ich. Ein respektloses oder unhöfliches
Wort über Ihre Hautfarbe, und sie wären sofort gefeuert oder würden vor
eines dieser Gleichstellungsgerichte gezerrt. Sie gehören ja wohl kaum
zu den Kantinenhockern, wie? Keiner von den Jungs. Es kann nicht so
einfach sein, damit zurechtzukommen.«
Malcolm Warren blickte auf und schüttelte beinahe unmerklich
den Kopf, als könne er es nicht fassen, dass Menschen, die im Glashaus
sitzen, immer wieder dazu neigen, mit Steinen zu werfen. Dann widmete
er sich wieder seinem Notizbuch und bewegte seine Hand weiter langsam
über die Seite.
Benton sagte ruhig: »Würden Sie bitte meine Frage beantworten?
Ich will es anders ausdrücken. Warum sind Sie gerade zum jetzigen
Zeitpunkt hier?«
»Weil Miss Gradwyn mich gebeten hat zu kommen. Sie wollte hier
eine Operation vornehmen lassen, die ihr Leben verändern würde, und sie
wollte einen Freund dabeihaben, der ihr während der einwöchigen
Genesungszeit Gesellschaft leistet. Ich komme relativ regelmäßig in
dieses Cottage, wie Ihnen mein Cousin und meine Cousine zweifelsohne
bereits erzählt haben. Rhoda ist wahrscheinlich deshalb
hierhergekommen, weil Marcus, der Assistenzarzt, mein Cousin ist und
ich ihr das Manor empfohlen habe. Jedenfalls hat sie gesagt, sie
braucht mich, und ich bin gekommen. Beantwortet das Ihre Frage?«
»Nicht ganz, Mr. Boyton. Wenn Miss Gradwyn so darauf aus war,
Sie bei sich zu haben, weshalb hat sie Mr. Chandler-Powell dann klipp
und klar gesagt, dass sie auf keinen Fall Besuch empfangen möchte? Das
behauptet er zumindest.
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