Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Bezichtigen Sie ihn der Lüge?«
»Drehen Sie mir nicht das Wort im Mund herum, Sergeant.
Vielleicht hat sie ja ihre Meinung geändert, auch wenn ich das nicht
für wahrscheinlich halte. Vielleicht wollte sie mich erst sehen, wenn
der Verband abgenommen und die Narbe verheilt war, oder aber Big George
hielt es medizinisch nicht für ratsam, dass sie Besuch bekam, und
sprach ein Verbot aus. Woher soll ich denn wissen, was passiert ist?
Ich weiß nur, dass sie mich gebeten hat zu kommen und dass ich bis zu
ihrer Abreise hierbleiben sollte.«
»Aber Sie haben ihr doch eine SMS geschickt. Wir haben sie auf
ihrem Handy gefunden. Etwas sehr Wichtiges ist passiert.
Brauche deinen Rat. Muss dich unbedingt sehen, bitte, schließ mich
nicht aus. Was war das denn so Wichtiges?«
Die Antwort ließ auf sich warten. Boyton bedeckte das Gesicht
mit den Händen. Benton dachte bei sich, diese Geste könnte den Versuch
darstellen, eine Gefühlswallung zu verbergen, aber es war gleichzeitig
auch eine praktische Methode, seine Gedanken zu ordnen. Benton wartete
kurz ab und sagte dann: »Haben Sie sich denn irgendwann nach Ihrer
Ankunft mit ihr getroffen, um diese wichtige Angelegenheit zu
besprechen?«
Ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, sagte Boyton: »Wie denn?
Sie wissen doch, dass das nicht ging. Sie wollten mich weder vor noch
nach der Operation ins Manor lassen. Und am Samstagmorgen war sie schon
tot.«
»Ich muss Sie noch einmal fragen, Mr. Boyton. Was gab es
Wichtiges mit ihr zu besprechen?«
Nun sah Boyton ihm ins Gesicht, und er klang gefasst. »So
wichtig war es nicht. Es sollte sich nur so anhören. Es ging um Geld.
Mein Partner und ich brauchen noch ein weiteres Haus für unser
Unternehmen, und gerade ist ein passendes auf dem Markt. Für Rhoda wäre
das eine wirklich gute Investition gewesen, und ich hatte gehofft, sie
würde einspringen. Ein neues Leben vor sich, ein Leben ohne
Narbe – es hätte sie interessieren können.«
»Ihr Partner kann das sicher bestätigen?«
»Das mit dem Haus? Ja, das kann er, aber ich wüsste nicht,
warum Sie ihn danach fragen sollten. Ich habe ihm nicht erzählt, dass
ich mich an Rhoda wenden wollte. Und eigentlich geht Sie das alles gar
nichts an.«
Benton entgegnete: »Wir untersuchen einen Mordfall, Mr.
Boyton. Da geht uns alles etwas an, und wenn Ihnen etwas an Miss
Gradwyn lag und Sie möchten, dass der Mörder gefasst wird, dann helfen
Sie uns am besten dadurch, dass Sie unsere Fragen vollständig und
wahrheitsgemäß beantworten. Sie werden jetzt zweifellos so schnell wie
möglich nach London und zu Ihrem Unternehmen zurückkehren wollen?«
»Nein, ich habe eine Woche gebucht, und ich bleibe eine Woche.
Das habe ich von vornherein gesagt, und ich schulde es Rhoda. Ich
möchte herausfinden, was hier vor sich geht.«
Die Antwort überraschte Benton. Wenn sie es nicht ausdrücklich
genießen, mit gewaltsamen Todesfällen zu tun zu haben, wollen die
meisten Verdächtigen möglichst schnell möglichst großen Abstand
zwischen sich und dem Verbrechen schaffen. Es diente zwar der Sache,
Boyton hier im Cottage wohnen zu haben, aber Benton hatte damit
gerechnet, sein Verdächtiger würde lauthals protestieren und darauf
bestehen, ihn hier nicht länger festzuhalten, weil er dringend zurück
nach London müsse.
Er fragte: »Wie lange haben Sie Rhoda Gradwyn gekannt und wie
haben Sie sich kennengelernt?«
»Wir haben uns vor ungefähr sechs Jahren kennengelernt, nach
einer nicht sehr erfolgreichen freien Theaterproduktion von Warten
auf Godot. Ich war gerade mit der Schauspielschule fertig.
Wir sind uns auf der Premierenfeier begegnet. Eine grauenhafte
Veranstaltung, aber mir hat sie Glück gebracht. Wir sind ins Gespräch
gekommen. Ich habe sie gefragt, ob sie in der darauffolgenden Woche mit
mir essen gehen möchte, und zu meiner Überraschung hat sie zugesagt.
Danach haben wir uns gelegentlich getroffen, nicht häufig, aber immer
voller Vorfreude, zumindest was mich betraf. Ich habe Ihnen schon
gesagt, sie war eine Freundin, eine liebe Freundin, und sie gehörte zu
denjenigen, die mir geholfen haben, wenn ich einmal keine Rolle bekam
und keine lukrativen Ideen hatte. Nicht oft und nicht viel. Sie hat die
Rechnung bezahlt, wenn wir uns zum Essen getroffen haben. Ich kann
Ihnen das nicht begreiflich machen, und ich wüsste auch nicht, weshalb
ich es versuchen sollte. Es geht Sie nichts an. Ich habe sie geliebt.
Ich war nicht in sie verliebt, ich habe sie geliebt. Ich brauchte
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