Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
die
Treffen mit ihr. Mir gefiel die Vorstellung, dass sie Teil meines
Lebens war. Ich glaube nicht, dass sie mich geliebt hat, aber sie hat
sich meistens mit mir getroffen, wenn ich sie darum gebeten habe. Ich
konnte mit ihr reden. Das war kein Mutter-Sohn-Verhältnis, es ging auch
nicht um Sex, es war einfach nur Liebe. Und jetzt hat eins von diesen
Ungeheuern im Manor sie umgebracht. Ich gehe hier nicht weg, bevor ich
weiß, wer es war. Überhaupt, ich beantworte jetzt keine weiteren Fragen
über sie. Was wir empfunden haben, haben wir empfunden. Das hat nichts
damit zu tun, warum oder wie sie gestorben ist. Wenn ich es erklären
könnte, würden Sie es nicht verstehen. Sie würden nur lachen.« Er fing
an zu weinen, ohne einen Versuch zu unternehmen, dem Strom der Tränen
Einhalt zu gebieten.
»Über die Liebe lacht man nicht«, sagte Benton und dachte: O
Gott, das klingt wie eine ganz üble Schnulze. Über die Liebe lacht man
nicht! Ü-ü-über die Liebe lacht man nicht! Fast konnte er
die fröhliche, banale Melodie hören, die sich in seinem Kopf
verselbstständigte. Beim Eurovision Song Contest könnte sie gar nicht
schlecht abschneiden. Als er wieder in Boytons verzerrtes Gesicht
blickte, dachte er: Was er empfindet, scheint echt zu sein,
aber was genau ist es?
Etwas sanfter fragte er: »Können Sie uns sagen, was Sie von
dem Augenblick Ihrer Ankunft in Stoke Cheverell an getan haben? Wann
war das genau?«
Boyton fasste sich wieder, und zwar schneller, als Benton
erwartet hatte. Mit einem Blick auf Boytons Miene fragte er sich, ob
dieser schnelle Wechsel dem Schauspieler zuzuschreiben war, der seine
Gefühlsspanne vorführte. »Am Donnerstagabend gegen zweiundzwanzig Uhr.
Ich bin aus London gekommen.«
»Miss Gradwyn hat Sie also nicht gebeten, sie zu fahren?«
»Nein, das hat sie nicht, und ich habe das auch nicht
erwartet. Sie fährt gerne Auto, das ist ihr lieber, als gefahren zu
werden. Außerdem musste sie wegen der Untersuchungen schon früh hier
sein, und ich konnte erst abends weg. Ich habe mir etwas zum
Frühstücken für den Freitag mitgenommen, alles andere wollte ich im
Dorf einkaufen. Ich habe mich telefonisch im Manor gemeldet und mich
nach Rhodas Befinden erkundigt. Da hat sie schon geschlafen. Als ich
nach den Besuchszeiten fragte, teilte Schwester Holland mir mit, sie
habe sich jeglichen Besuch ausdrücklich verbeten, und ich habe nicht
weiter darauf bestanden. Ich habe daran gedacht, bei meinem Cousin und
meiner Cousine vorbeizugehen – sie wohnen nebenan im Stone
Cottage und bei ihnen brannte noch Licht –, aber ich konnte
mir nicht vorstellen, dass sie sich sonderlich über meinen Besuch
freuen würden, schon gar nicht nach zehn Uhr abends. Ich habe mich noch
eine Stunde vor den Fernseher gesetzt und bin dann ins Bett gegangen.
Ich fürchte, am Freitag habe ich ausgeschlafen, Sie müssen mich also
erst gar nicht fragen, was vor elf passiert ist, als ich wieder im
Manor angerufen habe und man mir sagte, die Operation sei gut verlaufen
und Rhoda würde sich gut erholen. Sie wiederholten noch einmal, dass
sie keinen Besuch wollte. Gegen zwei hab ich im Dorfpub zu Mittag
gegessen, dann bin ich etwas in der Gegend herumgefahren und habe
eingekauft. Danach kam ich hierher zurück und bin den ganzen Abend
hiergeblieben. Als ich am Samstag die Polizeiautos kommen sah und von
dem Mord erfuhr, habe ich versucht, ins Manor zu gelangen. Ich habe es
schließlich geschafft, mich an eurem Wachhund vor der Tür
vorbeizudrücken und bin in die gemütliche Runde geplatzt, die Ihr Chef
arrangiert hatte. Aber das wissen Sie ja.«
Benton fragte: »Sind Sie vor Samstagnachmittag zu irgendeinem
Zeitpunkt im Manor gewesen?«
»Nein. Ich dachte, ich hätte das klar und deutlich gesagt.«
»Was haben Sie zwischen Freitag, sechzehn Uhr dreißig, und
Samstagnachmittag, als Sie von dem Mord erfuhren, gemacht? Insbesondere
geht es mir darum, ob Sie in der Nacht zum Samstag das Haus irgendwann
verlassen haben. Das ist sehr wichtig. Sie haben vielleicht etwas oder
jemanden gesehen.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht mehr ausgegangen
bin, deshalb habe ich auch nichts und niemanden gesehen. Ich war um elf
im Bett.«
»Keine Autos? Niemanden, der spätnachts oder am frühen
Samstagmorgen angekommen ist?«
»Wo angekommen? Das hab ich doch bereits gesagt. Ich war um
elf im Bett. Ich hatte einen sitzen, wenn Sie es schon genau wissen
müssen. Wenn ein Panzer durch die Eingangstür gedonnert wäre,
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