Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Dann waren
da noch die Gerüchte über die Beziehung zu George. Im Manor waren sie
immer Chirurg und Oberschwester, und manchmal benahmen sie sich beinahe
übertrieben korrekt. Wenn sie im Manor zusammen geschlafen hätten, wäre
das nicht unentdeckt geblieben. Aber Lettie fragte sich, ob Flavias
wechselnde Stimmungen, die Reizbarkeit, die sie neuerdings an den Tag
legte, die einsamen Spaziergänge nicht doch noch eine andere Ursache
hatten als den Tod einer Patientin.
Im Laufe des Tages wurde es für Lettie offensichtlich, dass
dieser neue Todesfall eher heimliches Interesse hervorrief als Angst
oder Nervosität. Robin Boyton kannte kaum jemand außer seinen
Verwandten, und diejenigen, die ihn kannten, mochten ihn nicht
sonderlich. Immerhin hatte er so viel Anstand besessen, außerhalb des
Manor zu sterben. Auch wenn es niemand mit dieser Gefühllosigkeit
ausgesprochen hätte, die etwa hundert Meter, die zwischen dem Haus und
dem Stone Cottage lagen, schufen neben der räumlichen auch eine
psychologische Distanz zu einer Leiche, die man sich zwar vorstellte,
die die Mehrheit aber nicht gesehen hatte. Sie fühlten sich mehr wie
Zuschauer als Beteiligte an einem Drama, abseits von der Handlung.
Langsam fühlten sie sich über die Maßen ausgeschlossen von Dalgliesh
und seinem Team, die immer Informationen wollten, aber so wenig
zurückgaben. Mog, der wegen seiner Aufgaben im Garten und auf dem
ganzen Grundstück einen Vorwand hatte, sich am Tor herumzutreiben,
hatte sie häppchenweise mit Informationen gefüttert. Er berichtete von
der Rückkehr der Spurensicherung, der Ankunft des Fotografen und Dr.
Glenisters, und schließlich vom Abtransport des unförmigen Leichensacks
auf einer Trage über den Pfad vom Cottage zu dem unheilverkündenden
Leichenwagen. Mit diesen Neuigkeiten versorgt, wappnete sich die
Gesellschaft im Manor für die Rückkehr von Dalgliesh und seinem Team.
10
D algliesh, der im Stone Cottage beschäftigt
war, überließ Kate und Benton die ersten Vernehmungen. Sie kamen um
fünfzehn Uhr dreißig ins Manor, um die Ermittlungen aufzunehmen. Mr.
Chandler-Powell stellte ihnen wieder die Bibliothek zur Verfügung, wo
sie den Großteil der Verhöre durchführen wollten. Die Ergebnisse der
ersten Stunden waren enttäuschend. Von Dr. Glenister konnte man eine
exakte Angabe der Todeszeit erst nach der Obduktion erwarten, doch in
Anbetracht der Genauigkeit ihrer vorläufigen Schätzungen konnten sie
auf Grundlage der Annahme arbeiten, dass Boyton am vorigen Tag zwischen
zwei und sechs Uhr gestorben war. Die Tatsache, dass er keine Zeit
gehabt hatte, nach einer Mahlzeit, die eindeutig eher ein Mittagessen
als ein Frühstück gewesen war, die Teller abzuspülen, war weniger
hilfreich, als es zunächst schien, denn in der Spüle befanden sich
ungespültes Geschirr und zwei Töpfe, die aussahen, als stammten sie
noch vom Abend zuvor.
Kate beschloss, jeden Einzelnen zu fragen, wo er sich am
Vortag zwischen ein Uhr mittags und dem Abendessen, das um acht Uhr
serviert wurde, aufgehalten hatte. Fast alle konnten für einen Teil
dieses Zeitraums ein Alibi vorweisen, jedoch niemand für alle sieben
Stunden. Am Nachmittag durfte fast jeder seinen eigenen Interessen oder
Neigungen nachgehen, und die meisten hatten eine gewisse Zeit allein
verbracht, entweder im Manor oder im Garten. Marcus Westhall war nach
Bournemouth gefahren, um Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Er war kurz
nach dem Mittagessen aufgebrochen und erst um halb acht wiedergekommen.
Kate spürte, dass die übrigen Mitglieder des Haushalts es etwas
merkwürdig fanden, dass Marcus Westhall immer dann das Glück hatte,
abwesend zu sein, wenn es galt, eine Leiche zu erklären. Seine
Schwester hatte vormittags mit Lettie im Büro gearbeitet und war nach
dem Mittagessen ins Stone Cottage zurückgekehrt, um sich um den Garten
zu kümmern. Sie hatte Laub zusammengeharkt, es auf den Kompost gebracht
und die abgestorbenen Zweige der Sträucher abgeschnitten, bis es
dämmerte. Dann war sie ins Cottage zurückgekehrt, um Tee zu machen. Sie
war durch den Wintergarten ins Haus gegangen, wo sie die Tür offen
gelassen hatte. Boytons Auto hatte draußen geparkt, aber von ihm hatte
sie den ganzen Nachmittag weder etwas gehört noch gesehen.
George Chandler-Powell, Flavia und Helena hatten sich im Manor
aufgehalten, entweder in ihrer jeweiligen Wohnung oder im Büro. Ein
hieb- und stichfestes Alibi konnten sie jedoch nur für die Zeit
beibringen, in der sie mit den
Weitere Kostenlose Bücher