Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
ie erreichten die Alte Wache, kurz bevor
Candace durch die Tore des Manor hinaustrat. Vom Fenster aus
beobachtete Kate, wie die kräftige Gestalt am Straßenrand stehen blieb.
Sie schaute in beide Richtungen, bevor sie selbstsicheren Schrittes und
schwungvoll die Straße überquerte. Dalgliesh nahm sie an der Tür in
Empfang und führte sie zu einem Stuhl am Tisch. Er und Kate nahmen
gegenüber Platz. Benton stellte den vierten Stuhl rechts neben die Tür
und setzte sich, das Notizbuch in der Hand. In ihren Tweedsachen und
den Budapestern hatte Candace das selbstgewisse Auftreten einer
Landpfarrersfrau, die ein abtrünniges Gemeindemitglied besucht. Aber
von seinem Platz aus machte er doch ein Anzeichen von Nervosität aus:
Ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte, verkrampften sich kurz.
Was auch immer Candace ihnen mitteilen wollte, sie hatte sich reichlich
Zeit damit gelassen, aber er zweifelte nicht daran, dass sie ganz genau
vorbereitet hatte, was sie sagen wollte und wie sie es formulieren
würde. Ohne auf Dalglieshs Aufforderung zu warten, begann sie mit ihrer
Geschichte.
»Ich habe eine Erklärung für das, was vorgefallen sein könnte,
eine Erklärung, die ich für möglich, ja sogar für wahrscheinlich halte.
Es wirft kein sonderlich gutes Licht auf mich, aber ich finde, Sie
sollten darüber Bescheid wissen, selbst wenn Sie es letztlich als
Hirngespinst abtun. Es könnte sein, dass Robin einen albernen Streich
ausprobiert hat, der dann mit einer Katastrophe endete. Ich muss das
erklären, aber dabei werden Familienangelegenheiten ans Licht kommen,
die nichts mit dem Mord an Rhoda Gradwyn zu tun haben können. Ich
verlasse mich darauf, dass meine Mitteilungen vertraulich behandelt
werden, sobald Sie zu der Überzeugung gelangt sind, dass sie nicht in
direktem Zusammenhang mit dem Mordfall stehen.«
Dalgliesh antwortete ganz sachlich; es war eher eine
Feststellung als eine Warnung, aber sie war direkt. »Was relevant ist
und wie weit Familiengeheimnisse bewahrt werden können, entscheide
allein ich. Im Voraus kann ich Ihnen keinerlei Zusicherungen machen.«
»Wir müssen also ganz der Polizei vertrauen, wie in anderen
Dingen auch. Verzeihen Sie, aber das ist nicht so leicht in einem
Zeitalter, in dem Neuigkeiten bares Geld wert sind.«
»Meine Mitarbeiter verkaufen keine Informationen an
Zeitungen«, erwiderte Dalgliesh ruhig. »Miss Westhall, finden Sie nicht
auch, dass wir Zeit verschwenden? Es ist Ihre Pflicht, mir
Informationen mitzuteilen, die uns bei den Ermittlungen weiterhelfen
könnten. Wir möchten niemandem unnötigen Kummer bereiten und haben
genügend Probleme damit, relevante Informationen zu verarbeiten, ohne
Zeit auf Angelegenheiten zu verschwenden, die irrelevant sind. Wenn Sie
wissen, wie Robin Boytons Leiche in die Gefriertruhe kam, oder sonstige
Informationen haben, mit deren Hilfe diese Frage beantwortet werden
kann, dann sollten wir jetzt besser fortfahren.«
Sollte sie dieser Rüffel getroffen haben, so ließ sie es sich
nicht anmerken. »Einiges davon wissen Sie vielleicht schon, wenn Robin
Ihnen von seinem Verhältnis zur Familie erzählt hat.«
Nachdem Dalgliesh nicht antwortete, fuhr sie fort: »Wie er
gerne verkündet, ist er Marcus' und mein Cousin. Seine Mutter Sophie
war die einzige Schwester unseres Vaters. Über mindestens zwei
Generationen haben die männlichen Westhalls ihre Töchter
geringgeschätzt und verachtet. Die Geburt eines Sohnes gab Anlass zum
Feiern, die Geburt einer Tochter galt als Unglück. Auch heute findet
man diese Haltung mitunter noch, aber bei meinem Vater und meinem
Großvater wurde das beinahe zu einer Familienobsession. Ich will nicht
sagen, dass wir vernachlässigt oder körperlich misshandelt wurden. Das
kam nicht vor. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass Robins Mutter
seelisch misshandelt wurde und deshalb unter Minderwertigkeitsgefühlen
und mangelndem Selbstbewusstsein litt. Sie war weder klug noch hübsch,
sie hatte kein sehr einnehmendes Wesen, und es war keine Überraschung,
dass sie von Kindheit an ein Problem darstellte. Sie verließ ihr
Elternhaus so früh es ging, und es verschaffte ihr einige Genugtuung,
ihren Eltern zu missfallen, indem sie ein ausgelassenes Leben in der
hektischen Welt am Rande der Popmusikszene führte. Mit nur
einundzwanzig Jahren heiratete sie Keith Boyton. Eine schlechtere Wahl
hätte sie kaum treffen können. Ich bin ihm nur einmal begegnet, aber
ich fand ihn abstoßend. Sie war schwanger, als sie
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