Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Täuschung
wahrscheinlich nicht lange aufrechterhalten können, aber ein paar Tage
oder eine Woche, vielleicht sogar zwei, wäre das absolut möglich
gewesen. Mein Vater war ein extrem schwieriger Patient, der es hasste,
krank zu sein, der Mitleid verabscheute und der keinen Besuch haben
wollte. Ich habe ihn mit der Hilfe einer pensionierten Krankenschwester
gepflegt, die mittlerweile in Kanada lebt, sowie einer älteren
Hausangestellten, die vor etwa einem Jahr gestorben ist. Am Tag, an dem
Robin abgereist ist, rief mich Dr. Stenhouse an, der praktische Arzt,
bei dem mein Vater in Behandlung war. Robin hatte ihn unter einem
fadenscheinigen Vorwand aufgesucht und wollte herausfinden, wie lange
mein Vater tot gewesen war, bevor der Arzt gerufen wurde. Dr. Stenhouse
war noch nie ein geduldiger Mensch gewesen. Im Ruhestand konnte er
Idioten noch weniger ertragen als während seiner Berufstätigkeit, und
ich kann mir gut vorstellen, wie er auf Robins Unverschämtheit reagiert
hat. Jedenfalls hat er Robin zu verstehen gegeben, dass er weder über
lebende noch über tote Patienten Auskunft erteilt. Ich bin mir sicher,
Robin verließ ihn in der Überzeugung, der alte Doktor sei entweder
übertölpelt worden oder Komplize gewesen, wenn er nicht schon bei der
Ausstellung des Totenscheins senil war. Wahrscheinlich glaubte er, wir
hätten die beiden Helferinnen bestochen, Grace Holmes, die ältere
Krankenschwester, die nach Kanada ausgewandert ist, und Elizabeth
Barnes, die mittlerweile verstorbene Hausangestellte.
Aber es gab es noch etwas, was er nicht wusste. Am Abend vor
seinem Tod hat mein Vater nach dem Gemeindepfarrer schicken lassen,
Reverend Clement Matheson – er ist immer noch der Dorfpfarrer
hier. Der ist natürlich sofort gekommen, seine ältere Schwester
Marjorie, die Ecclesia militans in Person, die für ihn den Haushalt
führt, hat ihn im Auto hergebracht. Beide werden den Abend nicht so
schnell vergessen haben. Reverend Clement war darauf vorbereitet, die
Sterbesakramente zu erteilen und eine reuige Seele zu trösten.
Stattdessen fand mein Vater die Kraft, ein letztes Mal gegen Religionen
im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen zu wettern. Auch
Reverend Clements Art und Weise, seiner Kirche vorzustehen, blieb davon
nicht verschont. Diese Information konnte Robin nicht an der Bar des
Cressett Arms aufschnappen. Reverend Clement oder Marjorie dürften kaum
ein Wort darüber verloren haben, außer mir oder Marcus gegenüber. Es
muss ein unangenehmes und erniedrigendes Erlebnis gewesen sein.
Glücklicherweise sind beide noch am Leben. Aber ich habe eine zweite
Zeugin. Vor zehn Tagen habe ich Grace Holmes einen kurzen Besuch in
Toronto abgestattet. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, die mein
Vater um sich duldete, aber in seinem Testament hat er sie nicht
bedacht, und nachdem es nun rechtskräftig ist, wollte ich ihr einen
gewissen Betrag zukommen lassen, als Ausgleich für dieses letzte,
fürchterliche Jahr. Sie hat mir schriftlich bestätigt, dass sie am
Todestag meines Vaters bei ihm war. Ich habe den Brief an meinen Anwalt
weitergeleitet.«
»Weshalb sind Sie mit dieser Information nicht sofort zu Robin
Boyton gegangen, um ihm die Flausen auszutreiben?«, fragte Kate ruhig.
»Das hätte ich wohl tun sollen. Aber es hat mir Spaß gemacht,
zu schweigen und zu beobachten, wie er sich immer weiter
hineinsteigerte. Wenn ich mein Verhalten im Nachhinein mit der
Ehrlichkeit beurteile, die einem zur Verfügung steht, wenn man sich
rechtfertigen muss, dann war es wohl Befriedigung darüber, dass er
etwas von seinem wahren Wesen offenbart hatte. Ich hatte immer ein
schlechtes Gewissen, weil seine Mutter so missachtet worden war. Jetzt
sah ich keine Notwendigkeit mehr, ihm etwas auszuzahlen. Durch diesen
einen Erpressungsversuch hatte er mich von jeder zukünftigen
Verpflichtung befreit. Stattdessen freute ich mich auf meinen Triumph,
so mickrig er sein mochte, und auf seine Enttäuschung.«
»Hat er denn jemals Geld gefordert?«, fragte Dalgliesh.
»Nein, so weit ist er nicht gegangen. Dann hätte ich ihn wegen
versuchter Erpressung bei der Polizei anzeigen können, auch wenn ich
nicht glaube, dass ich diesen Weg gewählt hätte. Aber er hat ziemlich
deutlich gemacht, wie er sich das vorstellte. Er wirkte zufrieden, als
ich ihm sagte, ich würde das mit meinem Bruder besprechen und mich
melden. Ein Eingeständnis habe ich natürlich nicht gemacht.«
»Weiß Ihr Bruder davon?«, fragte Kate.
»Nein.
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