Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
losgeschickt,
damit sie ihm den aus der Lady Chapel stahlen, ein Sakrileg, das über
Generationen eine Kluft zwischen Kirche und Manor gerissen hatte.
Während des Bürgerkriegs war das Manor nach einem lokalen Scharmützel
für kurze Zeit von den Truppen des Parlaments besetzt gewesen, und die
Toten der Royalisten hatten auf diesem Steinboden gelegen.
Marcus schüttelte Gedanken und Erinnerungen ab und
konzentrierte sich auf sein eigenes Dilemma. Er musste
entscheiden – und zwar schnell –, ob er im Manor
bleiben oder mit einem Team von Chirurgen nach Afrika gehen sollte. Was
seine Schwester wollte und was auch er als Lösung für all seine
Probleme erkannt zu haben meinte, wusste er, aber wäre diese Desertion
nicht mehr als nur eine Flucht aus seiner Stelle? Er hörte wieder diese
Mischung aus Ärger und Flehen in der Stimme seines Geliebten. Eric, der
im St. Angela's als OP-Helfer arbeitete, hatte von ihm verlangt, an
einer Schwulendemo teilzunehmen. Es war kein Streit aus heiterem Himmel
gewesen, der Konflikt war nicht zum ersten Mal aufgebrochen. Er
erinnerte sich an seine Worte.
»Was soll das für einen Sinn haben? Von einem Hetero würdest
du auch nicht verlangen, dass er mit einem Transparent durch die
Straßen marschiert, auf dem er seine Veranlagung verkündet. Warum
müssen wir das tun? Geht es denn nicht nur darum, dass wir das Recht
haben, zu sein, was wir sind? Wir müssen uns weder dafür rechtfertigen
noch es an die große Glocke hängen. Wen außer dir geht meine Sexualität
etwas an?«
Er wollte nicht an die Verbitterung und den Streit denken, an
Erics gebrochene Stimme, sein tränenverschmiertes Kindergesicht.
»Es geht dir doch gar nicht um dein Recht auf Privatheit; du
willst Reißaus nehmen. Du schämst dich dessen, was du bist, was ich
bin. Und mit deinem Job ist es dasselbe. Du bleibst bei
Chandler-Powell. Statt dir hier in London eine Vollzeitstelle zu
suchen, vergeudest du dein Talent lieber an eine Handvoll eitler,
extravaganter reicher Tussen, denen ihr Aussehen nicht mehr gefällt. Du
würdest eine Stelle finden, garantiert würdest du eine Stelle finden.«
»Das ist im Moment gar nicht einfach, und ich habe keinesfalls
die Absicht, mein Talent zu vergeuden. Ich gehe nach Afrika.«
»Um vor mir wegzulaufen.«
»Nein, Eric, um vor mir selber wegzulaufen.«
»Aber das schaffst du nicht, niemals, nie!« Erics Tränen, das
Zuknallen der Tür waren die letzten Erinnerungen.
Er hatte so konzentriert auf den Altar gestarrt, dass das
Kreuz zu einem Schleier verschwommen war. Er schloss die Augen und
atmete den feuchten, kalten Geruch des Raums ein, spürte die harte
Holzbank in seinem Rücken. Die letzte große Operation im St. Angela's
kam ihm in den Sinn, ein Hund hatte einer älteren Kassenpatientin das
Gesicht zerbissen. Sie war schon vorher krank gewesen, bei ihrer
Prognose war es nur noch darum gegangen, ihr ein Lebensjahr zu
erleichtern, wenn es hochkam, aber mit welcher Geduld, mit wie viel
Kunstfertigkeit hatte George über viele Stunden das Gesicht wieder so
zusammengeflickt, dass es sich dem unbarmherzigen Urteil der Welt
stellen konnte. Bei ihm wurde nichts übereilt oder forciert, nichts
versäumt. Mit welchem Recht verschwendete George dieses Engagement,
diese Meisterschaft auch nur an drei Tagen der Woche auf reiche Frauen,
denen ihr Mund, ihre Nase oder ihre Brüste nicht mehr gefielen und die
die Welt wissen lassen wollten, dass sie sich seine Arbeit leisten
konnten? Was war ihm daran so wichtig, dass er Zeit für etwas
erübrigte, das jeder weniger begabte Chirurg ebenso gut erledigen
konnte?
Und trotzdem war es ein Verrat an dem Mann, den er verehrte,
wenn er ihn jetzt verließ. Und wenn er ihn nicht verließ, war es ein
Verrat an sich selbst und an Candace, seiner Schwester, die ihn liebte
und die genau wusste, dass er sich befreien musste, und ihn dazu
drängte, endlich den Mut dazu aufzubringen. Ihr selbst hatte es nie an
Mut gefehlt. Er hatte im Stone Cottage übernachtet und während der
letzten Phase der Krankheit seines Vaters genug Zeit dort verbracht, um
einen Eindruck davon zu bekommen, was sie während dieser beiden Jahre
hatte ertragen müssen. Der Job war nun beendet, einen anderen hatte sie
nicht in Aussicht, und jetzt ging ihr Bruder nach Afrika. Sie
engagierte sich mit ganzem Herzen dafür, dass er es tat, aber er
wusste, wie einsam er sie zurücklassen würde. Er schickte sich an, die
beiden Menschen zu verlassen, die ihn liebten, Candace und
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