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Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Titel: Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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menschlicher Vorstellungskraft getragen. Ihm
diente es als Konzentrationshilfe, als Brennpunkt für die vielen
Gedanken, die ihm durch den Kopf krochen, flogen, wirbelten wie
trockene Blätter im plötzlichen Windstoß.
    Er war leise hereingekommen, hatte sich wie immer auf die
hinterste Holzbank gesetzt, mit dem Blick auf das Kreuz, aber nicht um
zu beten, denn er hätte gar nicht gewusst, wie man ein Gebet begann
oder mit wem man in Kommunikation zu treten versuchte. Manchmal fragte
er sich, was das wohl für ein Gefühl wäre, diese Geheimtür zu finden,
von der man sagte, man müsse sie nur antippen, damit sie sich einem
öffne, zu spüren, wie die Bürde der Entscheidungsunfähigkeit von den
Schultern abfiel. Aber diese Dimension menschlicher Erfahrung war ihm
so verschlossen wie dem Tauben die Musik. Vielleicht hätte Lettie
Frensham sie aufstoßen können. Fast jeden Sonntagmorgen sah er Lettie
in aller Herrgottsfrühe mit einer Wollmütze auf dem Kopf am Stone
Cottage vorbeiradeln, sah ihre kantige Gestalt gegen den sanften
Anstieg zur Landstraße antreten, von ungehörten Kirchenglocken zu einer
fernen, ungenannten, nie erwähnten Dorfkirche gerufen. In der Kapelle
hatte er sie noch nie gesehen. Wenn sie kam, dann zu den Zeiten, wenn
er mit George im OP war. Er dachte, dass es ihm ganz recht gewesen
wäre, wenn sie diesen Zufluchtsort mit ihm geteilt hätte, von Zeit zu
Zeit leise hereingekommen wäre, um sich in gemeinschaftlichem Schweigen
neben ihn zu setzen. Er wusste nicht viel über sie, nur dass sie Helena
Cressetts Gouvernante gewesen war, und er wusste auch nicht, warum sie
nach all den Jahren ins Manor zurückgekehrt war. Aber auf ihre
schweigsame und ruhige, vernünftige Art erschien sie ihm wie ein
stiller Teich in einem Haus, in dem die turbulenten Unterströmungen,
nicht zuletzt die in seiner eigenen unruhigen Seele, so deutlich zu
spüren waren.
    Von den anderen im Manor ging nur Mog in die Dorfkirche, wo er
sogar ein verdientes Mitglied des Kirchenchors war. Marcus vermutete,
dass Mog mit seinem immer noch mächtigen Bariton bei der Abendandacht
demonstrieren wollte, dass seine Loyalität – wenigstens
teilweise – dem Dorf und nicht dem Manor, der alten Führung
und nicht der neuen gehörte. Er war dem Eindringling zu Diensten,
solange Miss Cressett im Hause etwas zu sagen hatte und die Bezahlung
stimmte, aber Mr. Chandler-Powell konnte nur einen schmal rationierten
Teil seiner Loyalität kaufen.
    Außer dem Altarkreuz war eine bronzene Gedenktafel, in die
Wand neben der Tür eingelassen, der einzige Hinweis darauf, dass diese
Zelle etwas Besonderes war:
    I M G EDENKEN AN C ONSTANCE U RSULA 1896-1928,
    G EMAHLIN VON S IR C HARLES C RESSETT BT,
    DIE F RIEDEN AN DIESEM O RT FAND .
    M ÄCHTIGER NOCH , ZU L ANDE , IN DER L UFT
    UND AUF DEM W ASSER , DER M ANN DES G EBETS ,
    UND TIEF UNTER DEM M EERESSPIEGEL ;
    UND AUF DEM P LATZ IN DER B UCHT DES G LAUBENS ,
    WO FINDET , WER SUCHET ,
    WO DIE T ÜREN SICH DEM ÖFFNEN ,
    DER AN SIE KLOPFT .
    Erinnert als Gemahlin, nicht als geliebtes
Weib, gestorben mit zweiunddreißig. Eine kurze Ehe also. Er hatte die
Verse, die sich so sehr von üblichen frommen Sprüchen unterschieden,
inzwischen als Zeilen aus einem Gedicht von Christopher Smart
identifiziert, einem Dichter des achtzehnten Jahrhunderts. Über
Constance Ursula hatte er keine Nachforschungen angestellt. Wie alle
anderen im Haus, traute er sich nicht, mit Helena über ihre Familie zu
reden. Aber Bronze schien ihm ein ärgerlicher Misston in diesem Raum.
Die Kapelle hätte nur aus Holz und Stein bestehen sollen.
    Nirgendwo sonst im Manor fand man einen solchen Frieden, auch
nicht in der Bibliothek, wo er manchmal allein saß und wo man immer
darauf gefasst sein musste, dass die Tür sich öffnete und es vorbei war
mit dem Alleinsein und er die Worte hörte, die er seit seiner Kindheit
fürchtete: »Ach, Marcus, hier bist du, wir haben dich überall gesucht.«
In der Kapelle hatte ihn noch niemand gesucht. Es war seltsam, dass
diese steinerne Zelle ihm diesen Frieden gab, wo doch allein der Altar
Mahnung an Konflikte war. In den unsicheren Tagen der Reformation hatte
es theologische Streitereien zwischen dem Dorfpriester, der der alten
Religion anhing, und dem damaligen Herrn, Sir Francis Cressett,
gegeben, der sich zu den neuen Formen des Denkens und der
Gottesverehrung hingezogen fühlte. Als er einen Altar für seine Kapelle
benötigte, hatte er die Männer seines Hauses nächtens

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