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Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Titel: Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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ich gerne einen gekühlten Weißwein. Ein Chablis wäre schön. Ich
möchte um eins hier oben bei mir essen.«
    Sharon ging hinaus. Rhoda trank ihren Tee und dachte über die
Gefühlsverwirrung nach, die sie bei dem Mädchen erkannt zu haben
meinte. Sie hatte das Mädchen noch nie zuvor gesehen und auch noch
nicht von ihr gehört, und ein solches Gesicht vergaß man nicht so
leicht. Und doch – wenn sie ihr auch nicht bekannt
vorkam – erinnerte sie Rhoda unangenehm an ein Gefühl aus der
Vergangenheit, das sie damals nicht intensiv empfunden hatte, das aber
immer noch irgendwo tief im Gedächtnis vorhanden war. Und die kurze
Begegnung hatte das Gefühl verstärkt, dass dieses Haus mehr bereithielt
als die auf Gemälden bewahrten oder in Überlieferungen erhöhten
Geheimnisse. Es könnte ganz interessant sein, ein paar kleine
Erkundigungen einzuziehen, sich mal wieder der Leidenschaft hinzugeben,
Wahrheiten über Menschen herauszufinden, Menschen als Individuen oder
in ihren Arbeitsbeziehungen, hinter das zu schauen, was sie freiwillig
von sich preisgaben, hinter die sorgsam konstruierten Rüstungen, in
denen sie der Welt gegenübertraten. In Zukunft wollte sie diese Neugier
zügeln, diese mentale Energie für ein anderes Ziel nutzbar machen. Gut
möglich, dass dies ihre letzte Recherche sein würde, wenn man es
überhaupt so nennen wollte, auch wenn es gewiss nicht das Ende ihrer
Neugier war. Immerhin konnte sie feststellen, dass sie bereits etwas
von ihrer Macht verloren hatte, nicht länger zwanghaft war. Und wenn
sie erst von der Narbe befreit war, würde sie womöglich ganz
verschwinden oder nur noch nützliches Attribut ihrer Arbeit sein. Aber
über die Bewohner von Cheverell Manor wollte sie mehr wissen, und wenn
es hier tatsächlich Interessantes zu erfahren gab, warum sollte Sharon
mit ihrem unverhohlenen Mitteilungsbedürfnis nicht diejenige sein, die
es ihr verriet? Sie hatte das Zimmer nur bis nach dem Mittagessen
gebucht, und ein halber Tag wäre schon für das Dorf und das Grundstück
des Manor zu knapp, schon deshalb, weil sie eine Verabredung mit
Schwester Holland hatte, die ihr den OP und den Aufwachraum zeigen
wollte. Der Morgennebel versprach einen schönen Tag, wie geschaffen für
einen Spaziergang durch den Garten und vielleicht noch weiter. Der Ort,
das Haus und die Suite gefielen ihr gut. Sie würde sich erkundigen, ob
sie bis morgen Nachmittag bleiben konnte. Und in zwei Wochen würde sie
sich operieren lassen, und ihr neues, noch nicht erprobtes Leben konnte
beginnen.

9
    D ie Kapelle des Manor stand etwa sechzig
Meter vom Ostflügel entfernt, halb verdeckt von einem Ring
gesprenkelter Lorbeerbüsche. Über ihre frühe Geschichte und das Datum
ihrer Errichtung war nichts bekannt, aber sie war zweifellos älter als
das Manor, ein einziger, schlichter rechteckiger Raum mit einem
steinernen Altar unterhalb des Fensters nach Osten. Es gab kein Licht
außer Kerzen, von denen ein ganzer Vorrat in einer Pappschachtel links
neben der Eingangstür lag, zusammen mit einem Sortiment Leuchter, viele
aus Holz, die wie Relikte aus einer alten Küche oder den Schlafkammern
der Dienstboten in Viktorianischer Zeit aussahen. Da keine
Streichhölzer bereitlagen, musste der zufällige Besucher bei seiner
Andacht, falls überhaupt, ohne den Segen ihres Lichts auskommen. Das
Kreuz auf dem steinernen Altar war grob geschnitzt, von einem
Gutsschreiner vielleicht, entweder im Auftrag seines Herrn oder seinem
eigenen Drang zu Frömmigkeit und religiösem Bekenntnis gehorchend. Es
dürfte kaum im Auftrag eines der lange schon verstorbenen Cressetts
angefertigt worden sein, der mit Sicherheit Silber oder eine
kunstvollere Holzschnitzerei bestellt hätte. Abgesehen von dem Kreuz
war der Altar leer. Zweifellos hatten die Umwälzungen der Reformation
ihn seiner früheren Ausstattung entkleidet, einst überladen mit Pracht,
jetzt schlicht und schmucklos.
    Das Kreuz stand genau in Marcus Westhalls Blickfeld. Manchmal
ließ er den Blick für lange Augenblicke der Stille darauf verweilen,
als hoffte er auf eine geheimnisvolle Kraft, eine Entscheidungshilfe,
eine Gnade, von der er nur zu gut wusste, dass er darauf nicht rechnen
durfte. Unter diesem Symbol waren Kriege geführt worden, ungeheure
Umwälzungen in Staat und Kirche hatten das Gesicht Europas verändert,
Männer und Frauen waren gefoltert, verbrannt, ermordet worden. Man
hatte es mit seiner Botschaft von Liebe und Vergebung bis in die
finstersten Vorhöllen

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