Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
aufgegossen?«
»Ja, Madam. Ich habe ihn sofort hochgebracht.«
Rhoda hätte sie gerne darauf hingewiesen, dass das Wort Madam
unpassend war, aber sie ließ es. »Dann soll er noch ein paar Minuten
ziehen«, sagte sie. »Ich habe den Steinkreis da draußen gesehen. Man
hat mir davon erzählt, aber ich wusste nicht, dass er so nah am Manor
liegt. Ich nehme an, er ist prähistorisch.«
»Ja, Madam. Die Cheverell-Steine. Die sind sogar berühmt. Miss
Cressett sagt, sie sind über dreitausend Jahre alt. Sie sagt,
Steinkreise sind selten in Dorset.«
»Als ich letzte Nacht den Vorhang aufgezogen hab, war da unten
ein Licht zu sehen, es kam aus der Richtung. Es sah aus wie eine
Taschenlampe. Vielleicht ist dort jemand spazieren gegangen. Ich nehme
an, es kommen viele Besucher, um die Steine zu sehen.«
»Nein, nicht so viele, Madam. Die meisten Leute wissen gar
nicht, dass sie hier sind. Und die Dorfbewohner gehen da nicht hin. Das
wird Mr. Chandler-Powell gewesen sein. Er spaziert gerne nachts auf dem
Grundstück herum. Wir hatten ihn nicht erwartet, aber er ist gestern
Abend gekommen. Aus dem Dorf lässt sich keiner bei den Steinen blicken,
wenn es dunkel ist. Die fürchten sich alle vor dem Geist von Mary
Keyte.«
»Wer ist Mary Keyte?«
»Bei den Steinen spukt es. Die Frau wurde 1654 an dem
mittleren Stein festgebunden und verbrannt. Man hatte sie als Hexe
verurteilt. Normalerweise hat man nur alte Frauen als Hexen verbrannt,
aber sie war erst zwanzig. An dem braunen Fleck kann man immer noch
sehen, wo das Feuer war. In der Mitte des Kreises ist nie wieder Gras
gewachsen.«
»Na sicher, dafür werden die Menschen schon gesorgt haben in
den Jahrhunderten«, sagte Rhoda. »Wahrscheinlich haben sie etwas
hingeschüttet, damit es nicht nachwächst. Sie glauben doch wohl nicht
an solchen Unsinn.«
»Man soll ihre Schreie bis zur Kirche gehört haben. Als sie zu
brennen anfing, hat sie das Dorf verflucht, und fast alle Kinder sind
gestorben. Ein paar von den Grabsteinen kann man noch sehen auf dem
Kirchhof, aber die Schrift kann man nicht mehr lesen. Mog sagt, an dem
Tag, an dem sie verbrannt worden ist, hört man ihre Schreie noch heute.«
»In stürmischen Nächten, vermute ich.«
Rhoda wurde des Gesprächs überdrüssig, aber sie wusste nicht,
wie sie es beenden sollte. Das Kind – sie sah aus wie ein Kind
und war sicher nicht älter als Mary Keyte damals – schien auf
morbide Weise fasziniert von der Verbrennung zu sein. »Die Dorfkinder
werden an einer ansteckenden Krankheit gestorben sein, vielleicht an
Tuberkulose oder an einem Fieber«, sagte Rhoda. »Zuerst hat man Mary
Keyte die Schuld an ihren Krankheiten gegeben und sie verdammt, und
nachdem man sie verbrannt hatte, konnte man ihr die Schuld an ihrem Tod
geben.«
»Sie glauben also nicht daran, dass die Geister der Toten zu
uns zurückkehren können?«
»Weder als Geister – was immer das heißt –
noch in irgendeiner anderen Form.«
»Aber die Toten sind hier! Mary Keyte hat keine Ruhe gefunden.
Die Bilder in diesem Haus, die Gesichter – sie haben das Manor
nie verlassen. Und mich wollen sie hier nicht haben, das weiß ich.«
Sie klang nicht hysterisch oder übermäßig besorgt. Sie sagte
es wie eine Feststellung. »Das ist lächerlich«, erwiderte Rhoda. »Die
sind tot. Die können nichts mehr wollen. In dem Haus, in dem ich wohne,
hängt ein altes Bild. Ein Gentleman aus der Zeit der Tudor. Manchmal
versuche ich mir vorzustellen, was er wohl denken würde, wenn er mir
beim Leben und Arbeiten zuschauen könnte. Aber das ist mein Gefühl,
nicht seins. Und wenn ich es mir noch so einreden würde, ich könnte
nicht mit ihm kommunizieren, er würde kein Wort zu mir sagen. Mary
Keyte ist tot. Sie kann nicht zurückkommen.« Nach einer kurzen Pause
fügte sie entschieden hinzu: »So, und jetzt will ich meinen Tee
trinken.«
Das Tablett wurde hereingetragen, feines Porzellan, die
Teekanne im selben Design wie die Tasse, dazu ein passendes
Milchkännchen. Sharon sagte: »Ich soll Sie noch wegen dem Mittagessen
fragen, Madam, ob Sie es hier oder im Patientensalon serviert haben
wollen? Der ist unten am langen Flur. Sie können von einer Speisekarte
wählen.«
Sie zog ein Stück Papier aus der Tasche ihrer Strickjacke und
reichte es Rhoda. Es gab zwei Wahlmöglichkeiten. »Sagen Sie dem Koch,
ich nehme die Consommé, die Jakobsmuscheln auf pürierten Pastinaken und
Spinat mit Duchesse-Kartoffeln, und danach das Zitronensorbet. Und dazu
hätte
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