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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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mehr weiterkam, wusste ich, dass ich die Ecke des Häuserblocks erreicht hatte, verließ die Höfe durch das nächste Haus und rannte die Weintraubengasse hinunter auf die Stadtmitte zu. Am Donaukanal blieb ich stehen und setzte Jessie kurz auf dem Rasen ab, wo sie tatsächlich selbständig sitzen blieb, starr und stumm und mit aufgerissenen Augen. Auf der anderen Seite mündete ein unterirdischer Arm der Wien, ich dachte kurz darüber nach, uns unter der Erde einen Weg durch das Kanalsystem zu suchen, und verwarf den Gedanken sofort wieder. Stattdessen rauchte ich eine Zigarette, ordnete meine und Jessies Haare und trug sie zurück zur Straße. Wir nahmen ein Taxi in die Währingerstraße.
    Während Jessie in meiner Badewanne lag, hysterisch Lieder summte und Burgen errichtete aus Badeschaum, rannte ich in der Wohnung hin und her, von einem Fenster zum anderen, und spähte immer wieder in die Dunkelheit, als müssten sie dort jeden Moment auftauchen, meine Häscher, die Polizei oder vielleicht auch das Opfer selbst, auferstanden, blutend, wie auch immer. Schließlich nahm ich meine alte Loseblattsammlung mit Strafrechtsgesetzen aus dem Regal und einen Stapel frischer, schneeweißer DIN A4 Seiten aus dem Druckerschacht und setzte mich damit an den Küchentisch. Die Beschäftigung mit dem Recht hat immer eine beruhigende Wirkung. Alles findet darin seinen Platz.
    Ich schrieb das erste Wort, den ersten Satz in meiner schönsten Schrift, auf unsichtbarer, schnurgerader Linie. Ich machte eine Tatsachenfeststellung und bildete den vereinfachten Sachverhalt.
    Es gab den unbescholtenen Juristen M, seine Freundin J, das Opfer O und den Hintermann X.
    J sucht eines Tages M auf und bittet ihn um Rat. Sie fühle sich von X verfolgt, erzählt sie. Aufgrund eines Streits im Rotlichtmilieu wolle der X sich an ihr rächen, und sie wisse genau, dass der X ihr einen seiner Männer vorbeischicken wolle, um sie »abholen zu lassen«. M weiß nicht, was er von der Geschichte halten soll. Er bietet an, einige Zeit in J’s Wohnung zu verbringen. J nimmt dankbar an.
    M kocht für sie, aber sie isst nicht. Sie ist noch viel unruhiger als sonst, sie steht ständig am Fenster in Zimmer Eins und zeigt auf die Straße hinunter, siehst du das Auto, ganz dahinten auf der anderen Seite des Pratersterns, zwischen den Bäumen?
    Dort stehen viele Autos, sagt M.
    Ja, sagt J.
    Dann klingelte Jessies Funktelephon. Sie rannte ins Zimmer Fünf, das war das erste Mal, seit ich bei ihr war, dass jemand sie anrief, sie presste sich das Gerät ans Ohr und lauschte, und bevor ich es ihr wegreißen konnte, hatte sie die Verbindung bereits unterbrochen und ließ sich auf den Boden fallen, steif wie ein Parkinsonpatient im Endstadium. Ich schleifte sie hinter mir her zurück ans Fenster. Auf der Straße regte sich nichts, alles war absolut normal, genau so normal wie immer, totenstill, es war spät. Ich richtete sie auf, dass sie hinaussehen konnte.
    Guck, sagte ich, es ist doch alles in Ordnung.
    In dem Moment wurde die Fahrertür eines der Autos hinter dem Praterstern geöffnet. Ein Mann stieg aus.
    Nein nein nein nein, schrie Jessie.
    Ich ließ sie los, weil ich beide Hände brauchte, um meine Aktentasche zu öffnen. Jessie fiel wieder auf den Boden, und aus ihrer Brust erklang die Hupe, noch synthetischer als sonst, laut, ich konnte mich nicht darum kümmern, ich holte mein Fernglas aus der Tasche, ich musste sichergehen, mit bloßen Augen war kaum etwas zu erkennen. Während ich den richtigen Bildausschnitt suchte und mit unruhigen Fingern an der Schärfe drehte, dachte ich daran, wie ich das Gerät zuletzt verwendet hatte, das war ewig lang her, in einer Epoche meines Lebens, die der derzeitigen wegen der Hauptakteure und der herrschenden Verwirrung trotzdem ähnlicher war als alles, was dazwischen lag.
    Der Mann, der neben seinem Auto den Rücken dehnte, hatte lange schwarze Locken, er war schlank und träge und stand mit leicht hochgezogenen Schultern und vorgeneigtem Kopf, als würde er permanent auf etwas lauschen, das sich unter seinen Füßen abspielte. Ich sah zu, wie er sich mit beiden Händen die Haare am Hinterkopf zu einem Zopf zusammendrehte, der, kaum losgelassen, sofort wieder auseinander sprang.
    Aber es war dunkel, und ich hatte ein Fernglas, kein Nachtsichtgerät. Dann trat die Gestalt ein paar Schritte zur Seite und wurde vom Häuserblock auf der anderen Straßenseite verdeckt.
    Nein nein nein nein, schrie Jessie.
    Sie warf sich auf dem

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