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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Boden hin und her, die Augen geweitet, und ich musste das Fenster verlassen, um sie zu schütteln, bis sie zu schreien aufhörte. Auf einmal wurde sie ganz still, dann setzte sie sich auf, streifte meine Hände ab und sah mir ins Gesicht.
    Max, sagte sie, im Nachtschränkchen, in Zimmer Vier.
    Ich stand auf, durchs Fenster sah ich den Mann wieder, er überquerte die Helenengasse und ging auf den Kreisverkehr zu. Ich lief ins Zimmer Vier und fand im Nachtschränkchen die Einzelteile eines G3, geputzt und sortiert, das Zielfernrohr in einen weichen Lappen gewickelt. Ich klemmte mir Rohr, Handschutz und das Gehäuse mit Plastikschulterstütze unter den Arm, hob den Saum meines T-Shirts und warf die Kleinteile in den entstehenden Bauchbeutel. Dann rannte ich zurück, setzte mich neben Jessie auf den Boden und begann mit fliegenden Fingern, das Gewehr zusammenzusetzen, wie damals, als Wehrdienstleistender auf dem Übungsschießstand. Sie hupte leise vor sich hin, im Sitzen, und sah mir zu.
    Ruhig, ruhig, sagte ich, wir lösen das Problem ein für alle Mal.
    Beim Bund hatte ich eine Minute und zwanzig Sekunden Bestzeit gehabt, fürs Auseinandernehmen und wieder Zusammenbauen, aber das war zehn Jahre her. Unsere Blicke trafen sich, während ich einen Moment lang Verschlusskopf und Verriegelungsstück in der Hand wog, bevor ich sie vor dem Schlagbolzen einsetzte. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, und wenn die Kleinteile sich verkanten, ist alles im Arsch.
    Als ich aufsprang, sah ich den Mann an der roten Ampel vor dem Tegetoff-Denkmal inmitten des Pratersterns, und ich hörte das Brummen eines Lastwagens in einiger Entfernung. Der Mann schaute die Straße entlang, und dann, so kam es mir vor, heftete er die Augen auf das oberste Stockwerk der Praterstraße 61. Uns trennten etwa zweihundertfünfzig Meter. Er setzte sich wieder in Bewegung. Das war der Moment. Ich ließ das Rohr einrasten und verzichtete auf den Mündungsfeuerdämpfer, keine Zeit, ich legte an. Ich holte tief Luft, atmete zur Hälfte aus und fixierte meine Lunge in diesem halbgefüllten Zustand. Sofort spürte ich, wie Hände, Kopf und mein ganzer Körper sich entspannten, und ich fühlte mich glücklich, es war alles eine Frage der Atemtechnik. Beim Bund damals hatte ich immer die beste Trefferliste, besser sogar als die Ausbilder. Ich hatte mich gleichzeitig darüber gefreut und dafür geschämt.
    Nach zwei Sekunden hatte ich ihn perfekt im Visier. Dann ging plötzlich über meinem Kopf das Deckenlicht an. Ich schaute mich nach Jessie um, die neben der Tür stand, eine Hand am Schalter, und mich ansah wie ein Hund, dessen Futterschüssel gerade gefüllt wird. Speichel lief ihr übers Kinn. Blitzschnell wandte ich mich wieder der Straße zu. Der Mann war abrupt stehen geblieben, hatte das Gesicht erhoben und sah zu mir herauf, zum einzigen erleuchteten Fenster der ganzen Fassade, und obwohl ich wusste, dass er nicht mehr als meine Silhouette erkennen konnte, weil ich das Licht im Rücken hatte, spürte ich, dass unsere Augen sich begegneten. Und ich wusste, dass er Shershah war, und ich hatte das unbegründbare Gefühl, dass er wusste, wer ich war.
    Und er sprang. In meine Richtung, die als einzige Deckung versprach. Er landete mitten auf der Straße, hatte die Hände erhoben, wie um den Kopf zu schützen, er wollte weiterrennen zur nächsten Hausecke, gleichzeitig drückte ich ab, es passierte nichts, ein Knacken im Magazin, vielleicht ging auch der Schlagbolzen ins Leere, den Lastwagen bemerkte ich erst im letzten Moment, die Hupe dröhnte wie ein Nebelhorn. Shershah wurde erfasst und zur Seite geschleudert, ich riss erschrocken das Gewehr hoch, als wollte ich einen Rückstoß imitieren.
    Peng, sagte Jessie fröhlich, getroffen.
    Die Bremsen des Lastwagens kreischten, Jessie tauchte neben mir am Fenster auf, und ein paar Sekunden lang starrten wir das dunkle Bündel da unten an, auf das der Lastwagenfahrer gerade zurannte.
    Ist er tot, fragte ich.
    Mit Sicherheit ist der tot, sagte Jessie.
    Sie hatte die Arme über die Fensterbank gelegt und die Hände um die Kante gekrallt und starrte hinunter, und als ich mit der Decke kam, war sie schon in der Küche beim Tisch.
    Beurteilen Sie die Strafbarkeit von M und J.
    Den Fall kannte ich aus meiner Examensvorbereitung. Ein Kausalitätsproblem, und selbst wenn man vorsätzlichen Totschlag bejahte und davon ausging, dass es objektiv an einer Verteidigungssituation fehlte, ließ doch der Irrtum des M

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