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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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und die Sterne funkeln dazu wie Kohlensäureblasen in einer Cola. Ich bin hellwach, die Nacht ist kaum weniger heiß als der Tag, es ist eine Nacht, um mit Freunden im Gastgarten unter Bäumen zu sitzen und Sturm zu trinken, ich fühle mich völlig normal, bis darauf, dass ich keine Freunde habe und Sturm noch nie leiden konnte, mir wird schon schlecht vom Schwefelgeruch in den Kneipen, wenn sie die Flaschen öffnen und es nach faulen Eiern stinkt.
    Clara reagiert weder auf Tritte noch auf Schläge, und ich will sie nicht verletzen. Vielleicht ist sie krank, vielleicht hat sie AIDS, das wäre eine gute Möglichkeit, mich anzustecken, nur dass ich nicht mal wüsste, wie ich in sie hineinkommen sollte.
    Ich überlege die ganze Zeit, wie sie mit kurzen Haaren aussehen würde, und suche zwischen den Papieren auf dem Schreibtisch nach einer Schere. Ich finde keine, stoße stattdessen auf den bunten Kugelschreiber und habe keine Lust mehr weiterzusuchen. Stattdessen hole ich einen Eimer Wasser vom Hahn, trinke und gieße etwas über sie, ganz wenig, vorsichtig, ich will sie nicht erschrecken, ich will ihr nur helfen, ich achte auch darauf, dass ihr etwas in den Mund fließt und dass sie es schluckt.
    Hör mal, sage ich in ihr Ohr, ich erzähle dir alles. Bis zum Ende. Aber ich muss wissen, dass du mich hörst. Dass du zuhörst.
    Sie öffnet ihre nassen Lippen und löst die Zunge vom Gaumen.
    Ich höre dir zu, sagt sie.
    Ich kann mich nicht konzentrieren, ich lausche die ganze Zeit mit halbem Ohr auf die Straße hinaus. Ich verstehe nicht, warum noch keiner hier ist, ich verstehe nicht, warum sie uns hier in Ruhe lassen. Es ergibt keinen Sinn, es macht mich nervös. Ich brauche eine Beschäftigung.
    Die Tür im Erdgeschoss des Vorderhauses lässt sich ohne weiteres eintreten, das Holz des Rahmens ist so morsch, dass es noch nicht einmal splittert, es gibt einfach nach. Der Raum dahinter ist neblig von Spinnweben und halb angefüllt mit alten Farbeimern, ein ganzer Turm, vielleicht wollte mal jemand renovieren. Hinter der Tür finde ich ein Bündel Werkzeuge, Rechen, Spitzhacke, Besen, Vorschlaghammer, die Metallteile so rostig, dass sie sich farblich kaum von den Holzstielen unterscheiden, jedenfalls im Dunkeln nicht. Ich wähle mir das Gerät aus, das am stabilsten aussieht, es ist eine Schaufel.
    Keine einzige Nacktschnecke klebt am Brunnen, es ist zu trocken oder den Engeln sind die Zungen ausgegangen. Die Platte bereitet mir mehr Schwierigkeiten als beim ersten Mal, aber mit der Schaufel und Hebelwirkung gelingt es, sie zur Seite zu kippen. Der Rest ist eine Frage der Schwerkraft, ich ziehe den Fuß weg genau im richtigen Moment. Das Gebüsch hinterlässt rote Kratzer überall auf meinen Armen, auf meinem Oberkörper, die Stellen beginnen sofort zu jucken. Modrige Kälte steigt herauf, im Schacht ist es unterschiedslos schwarz. Ich zünde ein Feuerzeug an, aber das Licht reicht kaum anderthalb Meter in die Tiefe und blendet mich so, dass ich nach ein paar Sekunden überhaupt nichts mehr sehe. Ich muss warten, bis die erschreckten Pupillen sich wieder zu öffnen wagen. Einstweilen gehe ich koksen. Was auch immer da unten liegt, es läuft mit Sicherheit nicht mehr weg.
    Ich setze mich auf den Rand, der Mond ist ein Stück höher gekrochen, ich breche Zweige ab, damit sein Licht den Brunnen erreicht. Glasscherben glänzen überall im Gebüsch, als wollten sie die Sternbilder am Himmel imitieren. Wieder schaue ich hinunter. Jetzt erkenne ich ein paar Schattierungen im unendlich komplizierten Gewebe der Farbe Schwarz. Das ist alles.
    Ich reiße wahllos ein paar Seiten aus Claras Ordner und drehe sie mit beiden Händen zu dicken Papierdochten, die ich auf dem Brunnenrand aufreihe. Sie leuchten weiß, als würden sie schon im unangezündeten Zustand Licht abgeben. Ich lege Feuer an die Spitze des ersten und halte ihn verkehrt herum, bis die Flamme fast mein Handgelenk erreicht. Dann lasse ich die Fackel in den Brunnen fallen.
    Mit Sicherheit kann ich sagen, dass da unten ein blauer Müllsack liegt, mit irgendwas gefüllt. Mit Gartenabfällen zum Beispiel. Der Hof ist immerhin teilweise auch ein Garten oder könnte mal einer gewesen sein. Vielleicht hat hier einst jemand Gras gemäht, Unkraut gerupft, Äste gestutzt und alles in Müllsäcke gestopft. Der Sack scheint teilweise mit Schlamm bedeckt, als wären damals ein paar Schaufelladungen hinterhergeworfen und mit der Zeit vom Regenwasser an die Ränder geschwemmt worden.

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