Adler und Engel (German Edition)
beruhigende Wirkung ihrer geruchlosen Haut.
Dann grabe ich weiter. Warum soll ich nicht die Nacht durcharbeiten, Jessie hätte sich gefreut, wäre auf beiden Beinen gehüpft und hätte mir gezeigt, wie ich das Leben schätzen muss und die einfachen Dinge darin, Nacht und Luft und Erde und Wurm, was braucht man mehr. Es ist einfacher, weiterzugraben, als aufzuhören. Jacques Chirac kommt aus dem Schuppen, um mir zuzusehen. Ich finde meinen Rhythmus. Das zischende Geräusch, mit dem die Schaufel in den Boden dringt, meine pfeifende Atmung und das Aufschlagen der Erde tief unten im Brunnen, schon lange ohne das Rascheln von Plastik, ganz satt und schwer, ergänzen sich zu einer hypnotisierenden Musik, und ich beginne, jedes Mal, wenn ich die Schaufel hoch über den Brunnenrand hebe, einen kleinen Ton auszustoßen, nur weil es so schön ist. Irgendwo in mir höre ich das übliche Rieseln und Tropfen, wie immer, wenn ich an Jessie denke, als wäre ich eine Tropfsteinhöhle, und während ich grabe, denke ich viel an Jessie, wie sie hier auf dem Brunnenrand gesessen, Steine hinuntergeworfen und auf das Geräusch des Aufschlags gewartet hat, und dabei hat sie wahrscheinlich an Shershah gedacht, den sie mit ihrem ganzen Wesen liebte und der nicht zu ihr zurückkam, und ich weiß genau, dass sie unfähig war, das zu verstehen, dass sie deshalb glauben musste, sie selbst sei schuld an seinem Tod wegen eines uneinlösbaren Schwurs, und dass sie trotzdem gleichzeitig nie aufgehört hätte, auf ihn zu warten, solange sie nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, dass er tot war.
Auch muss ich daran denken, dass ich noch nicht einmal ein Photo von Jessie habe, und dass ich ihr so gerne noch etwas schenken würde, aber nicht weiß, wo ihr Grab sich befindet. Falls sie überhaupt eins hat. Und Spatenstich für Spatenstich dringt die Idee in meinen Kopf, ruckweise, dass ich mir keinesfalls sicher sein kann, dass der Wal da unten, den ich gerade beerdige, wirklich Shershah ist. Und nicht sie. Oder beide.
Ich muss aufhören zu buddeln. Ich werde wahnsinnig.
Neben Clara beruhigt sich mein fliegender Atem, ich streichele ihr über die Haare, immer wieder. Es ist nur, weil ich das Warten nicht aushalte, ich bin überreizt. Ich ziehe eine Linie, lang wie ein Unterarm, obwohl mein Herz jetzt schon in Panik von innen gegen die Rippen trommelt, so hart, dass ich seine Schläge sehen kann auf meiner Brust, an meinen Handgelenken und in den Kniekehlen. Nach dem Koksen fällt mir ein, dass man es mit Sicherheit riechen würde, wenn im Brunnen irgendetwas Fleischiges verfaulte, und ich beruhige mich ein bisschen, nur mein Herz macht weiter, ich drücke Claras Kopf gegen meine Brust, damit sie es hören kann, es gefällt ihr bestimmt, 200 bpm . Mir wird klar, dass ich etwas tun muss, mich bewegen, meine Augenlider ticken immer schneller, mein rechtes Bein zuckt, ich habe keine Lust auf einen epileptischen Anfall. Den Hund scheuche ich zu Clara in den Schuppen und schließe von außen ab.
Die Nacht scheint ein paar Grad kühler zu sein als die Nächte zuvor. Das wäre, in Übereinstimmung mit meinen Berechnungen, sogar logisch. Es muss Ende August sein, also wird die Hitze nachlassen, falls die Erde nicht doch feststeckt auf ihrer Umlaufbahn, und es wird regnen, irgendwann, vielleicht schon bald.
Mir kommt der Verdacht, dass Clara im Schuppen überhaupt nur auf den Regen wartet, wie eine dieser Wüstenpflanzen, die während der Trockenphasen braun, flach und eingeschrumpft für Monate in einem Winkel liegen können und dabei sogar tot sind im biologischen Sinn. Sobald sie aber Wasser bekommen, erblühen sie innerhalb von Minuten, wachsen zur zehnfachen Größe an, werden grün und nahezu schön. Ich habe dieses Phänomen klar vor Augen, mir fällt sogar der Name der Pflanze ein: Rose von Jericho. Gleichzeitig sehe ich Clara vor mir, wie sie bei den ersten fallenden Tropfen auf Knien und Ellenbogen ins Freie kriechen und so lange im Regen liegen bleiben wird, bis sie kräftig genug ist, um sich zu erheben und alleine zu gehen, und dann wird sie diesen Hof verlassen, soviel steht fest. Das würde erklären, warum sie da drin liegt wie ausgeknipst. Tot im biologischen Sinn. Ich werde den Wetterbericht hören müssen. Ich werde einen Gartenschlauch kaufen, ihn am Hahn neben dem Tor anschließen und Wasser auf das Dach des Schuppens und gegen die Fensterscheiben trommeln lassen, um auszuprobieren, ob Clara reagiert, ob sie nach einer Weile kriechend
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