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Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect

Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect

Titel: Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Robotham
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Eltern sprachen nie über Gracie. Ich musste Fetzen und
Einzelheiten von Cousins, Cousinen und entfernten Verwandten zusammentragen, die alle ein kleines Puzzleteil zu dem Rätsel beitragen konnten. Irgendwann hatte ich genug zusammen, um mir ein allgemeines Bild der Geschehnisse zu machen.
    Gracie war während des Ersten Weltkriegs Krankenschwester gewesen und von einer Jugendliebe geschwängert worden, die nicht aus dem Krieg zurückkam. Sie war siebzehn, unverheiratet und einsam mit einem gebrochenen Herzen.
    »Kein Mann will eine Frau mit einem Baby«, erklärte ihre Mutter ihr, als sie sie in den Zug nach London setzte.
    Gracie sah ihr Baby nur einmal ganz kurz. Die guten Schwestern im Nazareth House in Hammersmith hatten in Höhe ihres Bauches ein Laken gespannt, damit sie die Geburt nicht sehen konnte, doch sie riss es herunter. Als sie den wimmernden, gleichzeitig hässlichen und wunderschönen Säugling sah, zerbrach etwas in ihr, was kein Arzt je wieder heilen konnte.
    Meine Cousine Angelina sagt, es gibt Familienfotos von Tante Gracie in Irrenanstalten und Bezirkskrankenhäusern. Ich weiß sicher, dass sie Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in ihr Haus in Richmond gezogen ist, in dem sie immer noch lebte, als ich die Uni besuchte.
    Meine Mutter rief mich an, um mir zu sagen, dass Gracie gestorben war. Ich hatte die Hälfte meiner Prüfungen im dritten Jahr meines Medizinstudiums hinter mir – die Prüfungen, bei denen ich durchgefallen bin. Die Spurensicherung ergab, dass das Feuer in der Küche ausgebrochen und sich rasch im Erdgeschoss ausgebreitet haben musste. Trotzdem hatte Gracie reichlich Gelegenheit zu entkommen.
    Die Feuerwehrleute hatten sie im ersten Stock auf und ab laufen sehen, bevor das Feuer auf das ganze Haus übergriff. Sie sagten, sie hätte aus einem Fenster auf das Garagendach klettern können. Aber wenn dem so ist, warum konnten die Feuerwehrleute dann nicht denselben Weg nehmen und sie einfach retten?

    All die Bücher, Zeitungen und Zeitschriften waren perfekte Nahrung für die Flammen – zusammen mit den Dosen voller Stofffarbe und den Flaschen mit Färbemitteln in der Waschküche. Die Temperaturen waren so hoch, dass ihr ganzes »Sammelsurium« zu feiner weißer Asche reduziert wurde.
    Gracie hatte immer geschworen, dass man sie in einer Kiefernkiste heraustragen müsste. Am Ende hätte man sie auf eine Kehrschaufel fegen können.
    Ich hatte bereits entschieden, dass ich kein Arzt werden wollte, war mir jedoch über die Alternativen noch nicht im Klaren. Ich hatte Fragen anstelle von Antworten. Ich wollte herausfinden, warum Gracie solche Angst vor der Welt hatte. Vor allem jedoch wollte ich herausfinden, ob ihr jemand hätte helfen können.
    In den vier Jahren, die ich brauchte, um meinen Abschluss zu machen, ließ mein Vater keine einzige Gelegenheit aus, mich »den Herrn Psychologen« zu nennen und Witze über Sofas und Klecksographien zu machen. Und als meine Arbeit über Agoraphobie im British Psychological Journal veröffentlicht wurde, verlor er weder mir noch sonst einem Familienmitglied gegenüber ein Wort darüber.
    Jede weitere Stufe meiner Laufbahn wurde mit ähnlichem Schweigen quittiert. Ich beendete meine Ausbildung in London und bekam ein Angebot von der Gesundheitsbehörde in Merseyside. Julianne und ich zogen nach Liverpool – eine Stadt voller flachnasiger Fähren, Stahlwerkschlote, viktorianischer Denkmäler und leerer Fabriken.
    Wir wohnten in einem kargen Gebäude, das mit seiner mit Rauputz versehenen Fassade und den vergitterten Fenstern an eine Besserungsanstalt erinnerte. Gegenüber war der Sefton Park Busbahnhof, und jeden Morgen wurden wir vom bellenden Husten der Dieselmotoren geweckt, das klang, als ob ein alternder Raucher Schleim in ein Waschbecken spuckte.
    Ich hielt zwei Jahre in Liverpool durch und betrachte die
Stadt bis heute als den Ort, dem ich entkommen bin – eine mit allen modernen Plagen geschlagene Stadt voller Kinder mit traurigen Augen, Langzeitarbeitsloser und wütender armer Menschen. Ohne Julianne hätte ich in ihrem Elend untergehen können.
    Gleichzeitig bin ich dankbar, weil es mir gezeigt hat, wohin ich gehöre. Zum ersten Mal fühlte sich London wie ein Zuhause an. Ich arbeitete vier Jahre am West Hammersmith Hospital und wechselte dann ans Royal Marsden Hospital. Anlässlich meiner Ernennung zum Leiter der Abteilung wurde mein Name auf eine polierte Eichentafel vis-a-vis des Eingangs im Foyer des

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