Advocatus Diaboli
und gingen durch die hohe Tür eines weitläufigen Gebäudes.
Noch einmal wählte Pater Aba ein geeignetes Opfer aus: einen Mann, der mit einer sandfarbenen, weltlichen Kutte mit einer Kapuze bekleidet war. Aba wartete, bis er sich von seinen Gefährten absonderte, und sobald der arme Mann sich in einem Gewölbegang befand, der in eine Kapelle führte, erlitt er das gleiche Schicksal wie der Novize. Aba schlug ihn nieder, zog ihn unter das Treppenauge einer Wendeltreppe und beraubte ihn seines Gewands.
In neuer Verkleidung drang er in den Flügel des Klosters ein, der seine Neugier erregt hatte.
Er entdeckte einen riesigen Saal, der beinahe eine ganze Seite des Klosters einnahm, er ruhte auf Bündelpfeilern und trug ein Kreuzrippengewölbe als Decke wie das Kirchenschiff einer Kathedrale. Der Boden lag tiefer als der des benachbarten Klostergevierts. Der ganze Raum war unterteilt in unzählige Studiertische, die durch Holzwände voneinander abgetrennt wurden.
Am Eingang empfingen den Besucher zwei Fresken: Eines stellte die Medizin nach dem Griechen Asklepios dar und das andere nach dem Ägypter Thot.
Die Studiertische waren zu drei Vierteln verlassen, weil es Zeit für eine Mahlzeit oder eine Messe war. Pater Aba schritt langsam hindurch und musterte eingehend alles, was er sah; dabei prägte er sich jede noch so winzige Kleinigkeit ein und wich allen Blicken aus.
Er kam zum Skelett eines Menschen. Es stand erhöht auf einem
Dreifuß und war, abgesehen von einigen echten Knochenstücken - Bruchstücken von Oberschenkelknochen und Speiche, zwei Paar Rippen, eine Kniescheibe und einem Wirbel -, aus Holz geschnitzt. Aba trat näher an den Arbeitstisch heran: Auf einem Stoff waren weitere Knochen ausgebreitet sowie Schriften über die Wunder, die die Reliquien Aldeberts bewirkt hatten, eines ketzerischen Irrlehrers aus dem 8. Jahrhundert, den Papst Zacharias und der heilige Bonifatius verurteilt hatten.
Aba kannte die Legenden um Aldebert und seinen dämonischen Ruf.
Auf dem Pult waren auf einer Karte der christlichen Welt die Orte markiert, an denen sich heute die anderen Überreste Aldeberts befanden.
Entsetzt ließ Aba seinen Blick zu dem Skelett zurückwandern. Versuchen sie etwa, das Skelett eines ketzerischen Magiers wieder zusammenzusetzen?, fragte er sich. Die Bruchstücke von Aldeberts Körper wieder zusammenzufügen, der seit mehr als einem halben Jahrtausend tot ist? Wie in einem Baukastenspiel für Kinder sollten die Knochen Stück für Stück die Holzteile ersetzen.
Aba nahm seine Wanderung wieder auf, damit sein Entsetzen nicht bemerkt wurde. Auf dem nächsten Pult erkannte er einen äußerst kunstvollen geomantischen Kompass und Werke, die die vier Wahrsagetechniken des Varron behandelten.
Nicht weit davon entfernt erblickte er auf einem Studiertisch mehrere Exemplare des Kurzschwerts aus Cantimpré sowie Modelle mit anderen Maßen, die aus dem gleichen starren und leichten Eisen gehärtet waren, das Meister Souletin in Toulouse so fasziniert hatte!
Dann käme also alles von hier …?
Drei Arbeitsplätze weiter entdeckte er einen Tisch, der mit Fläschchen voller Blut bedeckt war. Auf wächsernen Patenen lagen Fleischstückchen, die in einer gelblichen Flüssigkeit ruhten. Aba
trat näher, um die Täfelchen zu lesen, auf denen Namen eingraviert waren. Ferrara 1171, Lanciano 750, Offi da 1273, Brügge 1216 …
Er erbleichte.
Besançon 991, Mailand 810, Pescara 1074, Oxford 1200 …
»Gütiger Jesus …«
Zehn Jahre zuvor hatte er in Paris für einen allgemeinwissenschaftlichen Disput Argumente für die Verteidigung eines Wunders vorbringen müssen, das sich 1254 in Douai zugetragen hatte: Während der Eucharistiefeier hatte sich eine Hostie vor den Augen der gebannten Zuschauer in blutiges Fleisch verwandelt! Damals hatte Aba Nachforschungen über ähnliche Eucharistiewunder wie 1228 in Alatri, 1240 in Santa Chiara d’Assisi, 1227 in Rimini angestellt.
Sie waren allesamt dort auf dem Studiertisch versammelt!
Aba beobachtete gebannt die Fettgewebe, die Muskelstränge, die Herz- oder Lungenhäute, die trotz der Jahre keine Spuren des Verfalls zeigten.
Er dachte an die zerstückelten, amputierten und ausgenommenen Leichen, die er in dem Wasserbecken außerhalb der Klostermauern entdeckt hatte.
Auf einem Präsentierteller erblickte er eine Reihe von Milchzähnen. Ein noch unvollendeter Text belehrte ihn, dass es sich um heilige Reliquien handelte, die man in Ägypten einer koptischen
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