Advocatus Diaboli
ein anderes Mirakel am meisten beeindruckt: Auf den Tüchern, mit denen ihre Mutter diesen rätselhaften Blutfluss abwischte, entdeckten wir danach lesbare Sinnsprüche! Das Blut hinterließ nicht etwa formlose Schmutzflecken, sondern es bildete Wörter, und diese Wörter bildeten Sätze. Und zwar egal, aus welchem Stoff die Tücher waren und mit welcher Bewegung man ihre Stirn säuberte!«
Pater Aba war sprachlos.
Althoras öffnete eine Kassette und holte daraus Leinenbinden hervor, die er dem Priester zeigte. Dieser rollte eine davon auf. Isarn wandte den Blick ab, um sie nicht zu sehen.
Was der Alte gesagt hatte, erwies sich als zutreffend: Das Blut, das unterdessen schwarz war, bildete vollkommen lesbare Buchstaben. Auf Lateinisch.
Aba las:
Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern um sie zu erfüllen.
Und auf zwei Tüchern verteilt:
Steh auf, denn Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker; doch über dir geht leuchtend der Herr auf, seine Herrlichkeit erscheint über dir.
Der Priester untersuchte die Leinen fasziniert und mit unendlicher Sorgfalt.
»Ist es möglich, dass es sich um eine Täuschung handelt?«, fragte er.
»Wer hätte sie fabrizieren können?«, antwortete Isarn. »Niemand in Castelginaux spricht Latein, und ihre Mutter ganz bestimmt nicht.«
»Gibt es noch mehr davon?«
Althoras zuckte mit den Schultern.
»Wir haben über hundert aufbewahrt! Ich habe sie übersetzen lassen: Es sind allesamt Verse aus der Bibel. Dennoch ist es unmöglich, eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen oder einen verborgenen Sinn hinter diesen Botschaften zu entdecken.«
Pater Aba dachte bei sich, dass niemand von diesen Räubern die Bildung hatte, um das Geheimnis zusammenhangsloser Bibelfragmente zu entschlüsseln.
»Wo werden diese Leinen aufbewahrt?«, fragte er.
»An einem sicheren Ort. Wie Ihr bei Perrot, so wollten auch wir Agnès’ Geheimnis bewahren, weil wir fürchteten, der Klerus
könnte eine Teufelei darin sehen und sie dafür bestrafen. Aber wie bei Perrot war unser Misstrauen nicht groß genug …«
»Könnte ich Zugang zu diesen Leinen erhalten?«, fragte Aba hastig.
»Wenn sich herausstellt, dass das unsere einzige Spur ist, dann können wir sie Euch ohne Schwierigkeiten besorgen.«
»Hatte Agnès noch andere Fähigkeiten? Hellseherische Träume?«
Der Greis schüttelte den Kopf.
»Die Arme litt nur unter den Schmerzen. Und sah in ihren Wundmalen einen schrecklichen Fluch, von dem sie sich befreien wollte.«
Aba legte die Binden in ihre Kiste zurück.
»Ich hätte es vorgezogen zu erfahren, dass meine Tochter von unseren Feinden entführt wurde«, gestand Isarn. »Wenigstens hätte sie dann durch Lösegeld gerettet werden können. Jetzt aber …«
»Wir haben zu wenig Spuren«, versetzte Althoras. »Die Truppe hat sich da draußen in der Natur gleichsam in Nichts aufgelöst. Innerhalb einer Woche können sie jeden beliebigen Weg im Königreich eingeschlagen haben. Unsere Männer überwachen die Wegezollposten in der Region, haben aber niemand Auffälligen gesehen. Bestimmt durchqueren die Entführer Ländereien von Lehnsherren oder Klöstern, die ihnen freundlich gesinnt sind.«
Pater Aba zog seinen rechten Schuh aus und holte den silbernen Gros tournois hervor, den er seit seinem Aufenthalt in Disard verborgen hatte.
»Ich habe in Erfahrung gebracht«, sagte er, »dass die Truppe nach Cantimpré in einer Herberge in Disard genächtigt und dort mit dieser Münze bezahlt hat.«
Er wollte die Münze Isarn reichen, damit dieser sie sehen konnte, doch Isarn wies ihn an, er solle sie lieber dem Blinden geben. Das tat Aba denn auch mit leiser Verwunderung.
Althoras ließ sie zwischen seinen Fingern hin und her wandern.
Seine knochigen, von der Gicht gepeinigten Hände bewegten sich wie Insektenbeine.
»Die Münze ist neu«, urteilte er, »ihre Vorderseite trägt das Monogramm von Papst Gregor IX.« Er streichelte sie. »Weder Prägestempel noch Münzherr.«
Aba war überrascht, wie zutreffend seine Bemerkungen waren. »Das ist ja unglaublich.« Althoras lächelte nur.
»Vor dreißig Jahren verlor ich mein Augenlicht, seitdem lernte ich, nie das Gewicht eines Pergaments oder eines Schmuckstücks oder die Konturen einer seltenen Münze zu vergessen.« Kurz darauf spannte sich das Gesicht des Alten an. Er dachte intensiv nach.
Er läutete eine Glocke, und ein junger Mann hob die Bespannung über der Plane an und trat
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