Advocatus Diaboli
Aufklärung von Aurelias Ermordung hatte ihn gelehrt, bis zur Erschöpfung nachzudenken, und ihm beigebracht, ein Indiz hin und her zu wenden, sich unermüdlich endlose Abfolgen von Einzelheiten zu vergegenwärtigen und sich ein unfehlbares Gedächtnis anzueignen.
Die Enttäuschung über eine Wahrheit, derer er nicht habhaft wurde, hatte ihm seine Leidenschaft für Gerechtigkeit eingeflößt und ihn befähigt, unerbittlich die Wahrheit aus der Lüge herauszukristallisieren.
Die gleiche Enttäuschung aber quälte ihn jedes Mal wieder schrecklich, wenn er ein Rätsel gelöst hatte: Warum war er bei allen erfolgreich und beim wichtigsten von allen gescheitert?
Die Erinnerung an Aurelia war wie ein nagender Wurm. Er wusste, dass er bis zum Ende seiner Tage und Nächte in ihm bleiben würde …
Benedetto öffnete die Augen und küsste den steinernen Grabdeckel. Er bat um Verzeihung.
Nach diesem erstickten Wort kehrte er der Gruft der Salutati den Rücken.
Noch am selben Tag verließ er Ostia. In Fahrzeugen, die trotz der schlechten winterlichen Verhältnisse in der Umgebung von Rom Station machten, passierte er zuerst Dominia und machte anschließend Halt in Felico Compatti. In Traventino verzögerte sich seine Weiterreise um sechs Stunden, weil eine Reihe von Bäumen unter der Last des Schnees mitten auf den Weg gestürzt waren. In Varezzo stieg er in den Wagen eines jungen Adligen, der sich nach Ancona und anschließend nach Venedig begab, bevor er in den Orient aufbrechen wollte. Der Junge war weitschweifig und geschwätzig, wie man es in seinem Alter ist, wenn man meint, man hätte alle Bücher gelesen. Benedetto war gezwungen, ihn in vielen Bereichen zu korrigieren: Er rezitierte ganze Seiten gelehrter Kommentatoren des Aristoteles, erklärte ihm, wie es Eratosthenes drei Jahrhunderte vor Christus gelungen war, den Umfang der Erdscheibe zu messen, indem er sich mit dem Schatten eines Stocks und einer Pyramide behalf. Er pries leidenschaftlich seine Lehrmeister in Büchern, deren Größe seiner Ansicht nach die aller anderen überstieg: Robert Grosseteste, Hugues de Saint-Victor und vor allem dieser Roger Bacon, der in Oxford lehrte, dass die Mathematik die Grundlage aller Wissenschaft sei und dass sie uns eines Tages zum wahren Verständnis Gottes und des Universums führen würde.
»Manche behaupten, die Ordnung der Natur begreifen zu wollen, hieße den Schöpfer beleidigen. Ich selbst will glauben, dass Gott an dem Tag, an dem der Mensch mit seinen eigenen Mitteln an die Mysterien der Welt rührt, nicht über den langen Weg erzürnt sein wird, den seine Kinder zurückgelegt haben«, sagte Benedetto.
»Aber das Gebet genügt, um zu Gott zu gelangen!«, entrüstete sich der junge Adelsmann.
»In der Tat. Das Gebet erklärt indes weder, warum die Eichel zur Eiche wird, noch warum das Morgengrauen unfehlbar auf die Nacht folgt.«
Das Einzige, was wirklich die Aufmerksamkeit des jungen Aristokraten fesselte, war die Tatsache, dass man dem Schein nicht trauen durfte und dass Kaufleute aus Ostia ebenso gebildet sein konnten wie Universitätsgelehrte und ein ungeheures Gedächtnis ihr Eigen nennen konnten!
Die beiden Männer trennten sich am Eingang des Weilers Seronomia. Benedetto bezog alleine Quartier in einer menschenleeren Herberge und verspeiste dort einen Teller mit gerösteten Maroni und Schwarzbrot. Er schlief auf einem Bett ohne Bettvorhang in einem niedrigen Zimmer, das bis zu zehn Gästen Platz bieten konnte. Seine Kleidung eines reichen Kaufmanns ließ den Preis unweigerlich hochklettern, doch das kümmerte ihn nicht.
Am nächsten Tag traf er in Spalatro ein, jenem kleinen Dorf, von dem ihm einige Tage zuvor seine Hausangestellte Viola erzählt hatte.
Er begab sich zum Friedhof und irrte zwischen den verwitterten Grabsteinen umher, bis er ein Doppelgrab entdeckte, über dem eine Statue der heiligen Monika thronte.
Es war das Grab von Pater Evermacher, dem ehemaligen Pfarrer von Cantimpré.
In der Nacht, die seiner Verhaftung vorausging, hatte sich Benedetto nach den zahlreichen Enthüllungen von Marteen über Rainerio mit diesem Dorf Cantimpré befasst, das Kardinal Rasmussen und seine Helfer seit einiger Zeit beschäftigte. Er besaß in seinem Laden Abschriften der Berichte, in denen von sogenannten Wundern in diesem Dorf im Quercy die Rede war. Darin hatte er entdeckt, dass der ehemalige Pfarrer Evermacher in Spalatro beerdigt war.
Benedetto suchte seit einiger Zeit nach einem
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