Aeon
werden alle paar Stunden nach dir sehen. Du darfst keinem sagen, was du liest. Aber wenn du dich irgendwie unwohl fühlst, musst du ihnen sofort Bescheid geben. Unwohlsein jeder Art. Und wen n’s nur ein flauer Magen ist. Kapiert?«
»Ja.«
»Dieses erste Mal bleibe ich bei dir.« Er drückte ihr sachte die Schulter. »In ein paar Stunden machst du mit mir Pause, okay?«
»Klar.«
Sie verfolgte, wie er sich auf einen Stuhl setzte, eine Tafel aus seiner Tasche zog und leise zu tippen anfing.
Sie schlug das erste Kapitel auf und begann. Sie las nicht von vorne nach hinten, sondern arbeitete sich sprunghaft von der Mitte zum Anfang und schließlich zum Ende, wobei sie die Seiten suchte, wo die wichtigsten Ereignisse zusammengefasst oder Schlussfolgerungen gezogen wurden.
Seite 15 In den späten Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurde es für die Sowjetunion und ihre Vasallenstaaten offensichtlich, dass die westliche Welt den Krieg der Technologie und damit Ideologie sowohl auf der Erde als auch im Weltraum gewann – oder bald gewinnen würde –, was für ihr Land und System unabschätzbare Folgen hätte. Sie zogen mehrere Möglichkeiten zur Abwehr dieser technischen Überlegenheit in Erwägung; ein gangbarer Weg war nicht in Sicht. Um 1990, als die Vereinigten Staaten ein weltraumgestütztes Verteidigungssystem aufbauten, verstärkte der Ostblock seine Bemühungen, durch Spionage und Einfuhr gesperrter Güter – Computer und anderes hoch technisches Gerät – entsprechendes Knowhow zu beziehen, was allerdings, wie sich bald zeigte, nicht gelang. 1991 erwies sich das weltraumgestützte Verteidigungssystem, das die Sowjets entwickelten, als unterlegen und minderwertig, sodass sich bewahrheitete, was sich seit Jahren abgezeichnet hatte: Die Sowjetunion konnte auf technischem Gebiet nicht mit der Freien Welt konkurrieren.
Sowjetische Computer waren meist zentral eingesetzt; Anlagen in Privatbesitz oder dezentralen Positionen waren verboten (bis auf wenige Ausnahmen – vgl. Agatha-Experimente), wobei auf strikte Einhaltung des Verbots geachtet wurde. Junge Sowjetbürger konnten sich, was das technische Verständnis anging, nicht mit den Altersgenossen der westlichen Welt messen. Die Sowjetunion wäre bald unter der Last der eigenen Bürokratie erstickt und in der Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts als antiquierter Staat des zwanzigsten (oder gar neunzehnten) Jahrhunderts zurückgeblieben. So blieb ihnen also keine andere Wahl, als einen »Endspurt«, um die Sportterminologie jenes Jahrhunderts zu bemühen, zu versuchen. Sie mussten den Mut und die Entschlossenheit der westlichen Nationen auf die Probe stel len. Falls die Sowjets versagt hätten, wären sie viel geschwäch ter als die Gegner ins nächste Jahrhundert gegangen. Der Kleine Tod wurde unvermeidbar.
Patricia holte tief Luft. Noch nie hatte sie Berichte über den Kleinen Tod aus einer so fernen Warte und historischen Perspek tive gelesen. Sie erinnerte sich an die Albträume ihrer Kindheit, als man mit Furcht und Bangen ausgeharrt und die Folgen schließlich im Fernsehen gesehen hatte. Inzwischen hatte sie gelernt, damit zu leben, aber diese kalte Bewertung, diese gründliche Einschätzung – eingebettet in die angstgebietende Umgebung – jagten ihr wieder kalte Schauer über den Rücken.
Seite 20 Der Kleine Tod von 1993 war ein vergleichsweise harmloser Schnitzer, eine sowohl peinliche als auch tragische Panne; sie führte international zu verlogenen Vorsätzen, die an kindlichen Trotz erinnerten. Aus Angst vor ihren Waffen übten bei diesem ersten Konflikt die westlichen Länder und der Ostblock ständig Zurückhaltung und bauten auf Taktiken und Technik vergangener Jahrzehnte. Als es zum nuklearen Schlagabtausch kam – womit alle Verantwortlichen von Anfang an gerechnet hatten –, bestanden die jungen, weltraumgestützten Verteidigungssysteme die Feuerprobe und erwiesen sich als erstaunlich effektiv. Sie konnten jedoch nicht die von U-Booten in Küstennähe abgefeuerten Geschosse abfangen, die Atlanta, Brighton und Teile der britischen Küste zerstörten. Die Russen konnten ihre Stadt Kiew nicht schützen. Der nukleare Schlagabtausch blieb begrenzt, und der Osten und Westen kapitulierten fast gleichzeitig. Aber nun hatte man sich eingeschossen; zudem hatten die Sowjets weniger Treffer als der Gegner abbekommen, was ihre eiserne Entschlossenheit festigte, unter keinen Umständen zu unterliegen oder von der Geschichte als
Weitere Kostenlose Bücher