Aerztekind
gab ich zu bedenken. »Du bist der erste Arzt in deiner Familie!«
»Papperlapapp«, sagte mein Vater. Das sagt er immer, wenn er weiß, dass ich die besseren Argumente habe. »Du interessierst dich doch für Medizin!«
»Ich?« Wann war ihm denn das aufgefallen? Das hatte ja nicht einmal ich mitgekriegt. Das konnte nur Wunschdenken sein.
»Na, du schaust doch immer diese Serien!«
Heilige Scheiße. Da ließ man sich einmal dabei erwischen, dass man Grey’s Anatomy oder Emergency Room oder irgendeine andere amerikanische Serie, die zwar im Krankenhaus spielte, von ihren Fans aber genau genommen nicht wegen des medizinischen Bezugs, sondern der netten zwischenmenschlichen Geschichten angeguckt wurde, und schon hatte man ein Interesse für Medizin!
Neulich hatte ich es mir an einem Mittwochabend mal wieder vor ProSieben bequem gemacht, da war mein Vater ins Wohnzimmer gekommen.
»Was guckst du da?«, hatte er gekräht und mir erklärt, dass er eigentlich gern den Grand Prix der Volksmusik sehen wolle, den er am Samstag aufgezeichnet hatte. Dann fiel sein Blick auf die Mattscheibe. »Ach, du schaust was aus dem Krankenhaus?«
Papa wippte unruhig von einem Bein aufs andere und sah dabei zu, wie sich die TV -Ärzte durch die Innereien eines Unfallopfers wühlten. Ich seufzte tief.
»Magst du dich nicht setzen?«
Er nahm von mir und meinem Angebot keine Notiz, und ich ignorierte ihn nun ebenfalls, denn jetzt rief eine Ärztin im Notfall- OP des Seattle-Grace-Hospital: »Ich krieg die Blutung nicht gestoppt! Ich brauche zwei Einheiten Erythrozyten-Konzentrat und zwei Gramm Fibrinogen!«
Papa wippte weiter von links nach rechts und sprach mehr zu sich selbst als zu mir oder der Chirurgin im Fernsehen: »Da ist doch bestimmt die Milz gerissen.«
Eine Szene später war das Gemetzel vorbei, und Meredith erklärte ihrem McDreamy, dass sie keine feste Beziehung, sondern lediglich eine Freundschaft mit ihm wolle.
Ich war enttäuscht. Papa auch, allerdings aus anderen Gründen.
»Da geht’s ja gar nicht um Medizin! Das ist ja genau wie der Vorabenddreck, den ihr immer schaut.«
Bevor ich antworten konnte, wechselte die Szene. Ein Patient mit Dauerschluckauf wurde gezeigt, der sich röchelnd und leidend auf seiner Liege hin- und herrollte und in einem fort (hicksend) stöhnte. Nachdem sich die komplette Krankenhausbelegschaft anständig über ihn lustig gemacht hatte und selbst meinem Vater ein abschätziges »Simulant!« über die Lippen gekrochen, fing der Patient plötzlich zu zucken an. Sofort diagnostizierte der herbeigeeilte Hirnspezialist, dass es sich nur um einen Hirntumor in fortgeschrittenem Stadium handeln könne, der Patient wurde intubiert und drei Minuten später kreischte schon die kleine Säge, mit der die Neurochirurgen einem die Schädeldecke aufflexen.
»So ein Quatsch!«, meckerte mein Vater. »Das würde nie ohne tagelange und eingehende Tests diagnostiziert werden. Mal ganz davon abgesehen, dass es mehr als unwahrscheinlich ist, dass der Schluckauf ein Anzeichen für einen Hirntumor ist!«
»Papa«, versuchte ich ihn zu beruhigen, »das ist eine Fernsehserie.«
»Das ist mir egal! Ihr glaubt das doch, dass das so abläuft, oder? Und dann kommt ihr wieder an und seid beleidigt, weil ich euch nicht gleich zum Röntgen schicke, wenn ihr euch die große Zehe am Bettkasten angehauen habt. Mann, Mann, Mann, womit ihr immer eure Zeit vergeudet!«
Dieser Plural. Der ging mir ja schon seit Jahren auf den Keks. Wenn eine meiner Schwestern oder ich oder meine Mutter, jedenfalls irgendjemand, der der weiblichen Fraktion dieser Familie angehörte, irgendetwas sagte, tat oder meinte, fing mein Vater immer das Pauschalisieren an: »Dass ihr immer so empfindlich sein müsst!«
Wer ihr? Wir alle? Die Frau als solches? Die holde Weiblichkeit in ihrer Gesamtheit? Oder nur wir Frauen vom Wittmann-Clan? Und wieso überhaupt »ihr«? Juliane hatte doch ganz allein das Auto an die Garagenwand gesetzt, wieso waren wir jetzt alle in unserer Gänze unbegabt, ein Auto zu bedienen?
Mich erinnert diese Verallgemeinerung immer an das Krankenschwester-Wir, das von Zeit zu Zeit auch von Landärzten und alteingesessenen Doktores bemüht wird: »Na, wie geht’s uns denn heute?« Vielleicht ist das die moderne Variante des veralteten Pluralis Majestatis, des sogenannten Machtplurals, den vor allem absolute Monarchen gern in ihren Volksreden verwendeten, um klarzustellen, dass sie zwar für sich allein entscheiden, aber
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