Aeternum
Amanda ihn nicht verstand.
»Sie hat sich von ihrem Meister losgesagt.«
Muriel schnappte erstaunt nach Luft. Er schob sich an Jul vorbei, der ihm Platz machte, musterte Amanda mit Misstrauen, aber auch Neugierde. Sie wich einige Schritte zurück, als Muriel zu Krätschmers Leichnam trat und mit einem Ruck sein Schwert aus dessen Körper zog. Offensichtlich war sie noch nicht ganz überzeugt, dass der Engel die Waffe nicht in ihre Richtung schwingen würde.
Juls ehemaliger Waffenbruder ließ die Klinge kurz aufflammen, um sie zu säubern. Dann schob er sie in die Scheide zurück und löste den Schwertgurt von seinen Hüften. Vor seinem alten Freund ging er auf die Knie, hielt ihm mit gesenktem Haupt die Waffe entgegen. Überrascht wich Jul einen Schritt zurück.
»Diese modernen Schusswaffen mögen es dir gestatten, einen Engel vom Himmel zu holen. Doch wenn du mit Dämonen verkehrst, solltest du ein Flammenschwert zur Hand haben.«
Die Rührung schnürte Jul die Kehle zu. Zögerlich streckte er die Hand aus und nahm das Schwert entgegen. Langsam legte er sich den Gurt um. Was hatte er da nur angerichtet mit so wenigen Worten? Womit hatte er die Ehrfurcht verdient, mit der sein alter Freund ihm begegnete?
»Ich danke dir«, brachte er heiser hervor.
Als Muriel aufsah, brannten Hoffnung und Verzweiflung wie helles Feuer in seinen Augen. Er wartete immer noch auf einen Befehl, auf eine einfache Antwort auf seine Frage. Jul schluckte. Hätte er doch nur eine gehabt! Wie konnte er Muriel begreiflich machen, dass seine einzige Chance darin lag zu lernen, wie man selbständig dachte? War das überhaupt möglich ohne die vagen Gefühle des Gewissens, die einen leiteten?
Amanda kam ihm zuvor. »Gibt es dort unten noch mehr Wachen?« Sie klang angespannt, drängend. Natürlich hatte sie recht, sie mussten sich beeilen.
Der Engel nickte, erhob sich gleichzeitig. »Ihr wollt zu dem Dämon?«
»Ja. Er hat Informationen, die wir brauchen.« Das Gewicht des Schwertes an seiner Seite war ungewohnt und zugleich vertraut. Jul legte eine Hand auf den Griff, stellte fest, dass seine Finger beinahe automatisch in die richtige Position glitten. »Kannst du die Wachen von ihren Posten fortlocken?«
Ein Lächeln huschte über Muriels Gesicht. Nun hatte er, was er wollte – eine Aufgabe, einen Befehl. »Natürlich. Was soll ich danach tun? Verabreden wir einen Treffpunkt?«
»Nein.« Erschrocken schüttelte Jul den Kopf. Er erinnerte sich noch allzu gut an seine eigene Verzweiflung, als er Luzifers Worten gelauscht hatte. Er wollte nicht, dass sein alter Freund dasselbe durchmachen musste. Besser, er hielt ihn aus dieser Sache raus. »Bleib hier bei den anderen.« Plötzlich kam ihm eine Idee. »Weißt du, wie man ein Telefon benutzt?«
Als Muriel voller Widerwillen das Gesicht verzog, aber nickte, fuhr Jul eilig fort. »Melde dich bei mir, falls irgendetwas Ungewöhnliches geschieht. Falls du erfährst, dass Michael etwas plant, oder dir neue Gerüchte bezüglich des Herrn zu Ohren kommen. Meine Nummer …« Er stockte, sah hilfesuchend zu Amanda hinüber. »Kann ich meine Handynummer irgendwo nachschauen?«
Sie stieß ein müdes Lachen aus. Dann streckte sie die Hand aus, und er legte das Handy hinein. Kurz darauf nannte sie eine Zahlenreihe, die Muriel mehrmals murmelnd wiederholte. Dann wandte sich der Engel ab und eilte die Treppen zu den Katakomben hinunter.
26
S chweigend warteten sie. Ihre Atemzüge erschienen Amanda laut in dem hohen Raum. Der Gurt des Sturmgewehrs schnitt ihr in die Schulter, die Waffe stellte ein ungewohntes Gewicht an ihrer Seite dar.
Sie vermied es, in Krätschmers Richtung zu sehen, legte stattdessen den Kopf in den Nacken und folgte dem Verlauf der Treppe mit dem Blick. Das Geländer wies in regelmäßigen Abständen Verzierungen auf, und hoch über ihrem Kopf fiel schwaches Mondlicht durch getöntes Glas. Ob dies wohl die Kaisertreppe war, von der man immer in den Reiseführern las? Dieser Privataufgang zu den Logen für irgendein früheres Regierungsoberhaupt? Ihre erste Besichtigung des Berliner Doms hatte sie sich eindeutig anders vorgestellt.
Unaufhaltsam kehrten ihre Gedanken zu Krätschmer zurück. Sie war sich fast sicher, dass er sie ansehen würde, wenn sie in seine Richtung schaute, mit einem Vorwurf im Blick. Sie glaubte noch immer, seinen Puls unter ihren Fingern zu spüren, schwach, aber unzweifelhaft vorhanden. Vielleicht sollte sie es Jul sagen? Doch wozu ihn damit
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