Aeternum
für ihn war. Doch es war so schwer, an einem Gedanken länger festzuhalten. Sie griff nach dem erstbesten Bild, das durch ihren Geist wirbelte, hielt sich daran fest, um in dem Strudel nicht zu ertrinken.
»Jehovah hatte auch Befehle … denke ich. Ich verstehe seine Erinnerungen nicht. Ich …«
Wenn sie doch nur klar denken könnte, dann wäre es auch einfacher, verständliche Sätze zu formulieren. Aber immer wieder drohten ihre eigenen Gedanken unterzugehen in der Flut der Erinnerungen. Da war der Hass, der Luzifer gehörte, ebenso wie die Jahrhunderte des Schmerzes. Und da waren andere Dinge. Schwerer fassbar, weniger menschlich.
»Es gibt eine Macht über ihm. Götter …« Amanda presste die Hände an die Schläfen, spürte dabei die steinerne Klinge des Messers an ihrer Wange. Doch das war nebensächlich, sie musste sich konzentrieren. »Götter sind Splitter … Splitter von etwas Größerem. Er wollte … Verdammt! Ich verstehe nicht, was er wollte. Vielleicht gab es einen Plan, aber es war nicht seiner. Oder vielleicht ging es wirklich nur um Macht. Oder beides.«
Frustriert schüttelte sie den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass alle Antworten auf alle Fragen knapp außerhalb ihrer Reichweite lagen. So nah, dass sie sie mit den Fingerspitzen streifen konnte, wenn sie sich danach streckte, sie aber nie zu fassen bekam.
Doch sie durfte nicht abschweifen, zu groß war die Gefahr, dass sie sich wieder verlor. Sie blickte in Juls blaugrüne Augen, suchte darin Halt. »Es tut mir leid. Ich würde dir gerne sagen, dass es einen Grund für all die Befehle gab, die du befolgt hast. Ich würde dir gerne Antworten geben. Aber es ist alles verschwommen.«
Verdammt, sie hatte sich das anders vorgestellt. Sie hatte einen großen Moment der Erkenntnis erwartet, nicht noch mehr Verwirrung und nur die Bruchstücke von Antworten. Doch dann vergaß sie ihren Frust, als ein Lächeln auf Juls Zügen erblühte. »Danke, dass du es versuchst. Aber ich denke, es spielt keine Rolle, wie man rechtfertigt, was ich getan habe. Ein Grund macht es letztendlich nicht besser, egal wie gut er ist.«
Dann wurde seine Miene ernst. »Der Welleneffekt ist noch immer da. Kannst du den angerichteten Schaden beheben?«
Konnte sie? Amanda lauschte in sich hinein. Ja, die Macht war da, sie konnte sie fühlen. Sie griff danach, aber sofort stürzte eine Flut von Erinnerungen auf sie ein, drohte sie zu ertränken. Sie ballte die Hände zu Fäusten, fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen. Der Strom der Worte fungierte wie eine Rettungsleine, half ihr, nicht wieder im Sumpf zu versinken. Jul streckte mit besorgter Miene die Hand nach ihr aus, doch irgendetwas hielt ihn zurück, als hätte jemand eine Barriere zwischen ihnen errichtet. War sie das? Sie konnte es nicht sagen.
»Was habt ihr erwartet?« Balthasars Stimme klang herablassend. »Du bist nur ein Mensch, Amanda. Dein Geist ist schlicht überlastet.«
Wütend funkelte sie ihn an. Zu gern hätte sie ihm das arrogante Lächeln aus dem Gesicht gewischt. Ihn für all das bezahlen lassen, was er ihr angetan hatte. Und mit einem Mal verstummte das Gewirr der Bilder und Gefühle in ihrem Geist. Wie eine heiße Klinge schnitt ihr Zorn durch die fremden Erinnerungen, teilte sie und ebnete ihr einen Pfad zu der Macht, für die sie all das Leid der letzten Tage auf sich genommen hatte.
»Baal!« Für den Bruchteil einer Sekunde steckte der Name in ihrer Kehle fest wie eine große Gräte, an der sie sich verschluckt hatte. Doch dann spülte die göttliche Macht durch sie hindurch und riss alle Hindernisse mit sich. Heißes Blut tränkte ihre Bluse. Rote Tropfen, Kugeln in der Schwerelosigkeit, stiegen in ihr Sichtfeld. Amanda hob die linke Hand und lachte. Der Kopf der Schlange verlief, Balthasars Blut sickerte aus ihrer Haut, ließ nichts als die Umrisse des einstigen Tattoos zurück. Feine, kaum sichtbare Narben. Mit der Rechten tastete Amanda über ihre Brust, fühlte feuchten Stoff. Sie musste nicht nachsehen, um zu wissen, dass auch die zupackende Hand über dem Herzen fort war. Sie hatte ihre Seele wieder.
Gleichzeitig ließ endlich der Schmerz in ihrem Oberschenkel nach. Die Wunde schloss sich.
Sie fühlte die Barriere, die sie unbewusst um sich errichtet hatte. Sie brauchte sie nicht mehr. Ein Gedanke wischte sie fort. Amanda streckte sich und blickte Balthasar in die Augen. Dieser verdammte Mistkerl. Ein Jahr hatte er ihr zur Hölle gemacht, sie und ihren Bruder gequält.
Weitere Kostenlose Bücher