Aeternum
Hätte Jul das Metall noch einen Moment länger festgehalten, wäre er vielleicht ebenfalls erstarrt.
Was genau war es nur, das dieser Welleneffekt bewirkte? Er veränderte Dinge und ließ sie verschwinden, wie es bei dem Werbeplakat in Karins Video der Fall gewesen war. Er ließ Dinge erstarren.
Was, wenn das Verschwinden mit dem Einsturz zu tun hatte? Wenn sich einfach ein Stück Erde in Luft aufgelöst hatte und daraufhin alles zusammengebrochen war? Aber wie passten die Beben dazu? Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.
Jul seufzte, senkte den Blick auf seine Hand und beschwor das blaue Glühen herauf. Warm floss es durch seine Glieder und umhüllte die Handfläche. Langsam nahm sie wieder eine normale Farbe an, das Gefühl in seinen Fingern kehrte zurück. Prüfend bewegte er sie und wandte sich schließlich von dem Betonbrocken ab. »Lass uns weitergehen.«
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Jul Gedanken kreisten noch immer um das Rätsel des Welleneffekts, doch so sehr er es auch hin und her wälzte, er konnte alldem keinen Sinn abgewinnen.
»Ich frage mich, welches Gebäude das hier mal war.« Wieder brach Amanda die Stille.
Anstatt zu antworten, fischte Jul das Handy aus seiner Tasche. Für eine Weile starrte er auf den Bildschirm, auf die kleinen bunten Bildchen, von denen die meisten ihm rein gar nichts sagten. Von wegen selbsterklärende Icons. Technik eben.
»Was suchst du?«
»Eine Sammlung von Karten, die uns sagen können, wo wir sind.« Vielleicht hätte er sich doch etwas mehr mit diesen Dingen beschäftigen sollen. Doch bisher hatte er sie kaum gebraucht. Nicht genug zumindest, um seinen Widerwillen dagegen zu überwinden.
»Lass mich mal sehen.« Amanda streckte die Hand nach dem Handy aus.
Er zögerte. Konnte es schaden, sie nach den Karten suchen zu lassen?
Ihre Miene verdüsterte sich. »Was? Hat du Angst, dass ich es einstecke und damit verschwinde?«
Erstaunlich, wie empfindlich sie jedes Mal reagierte, wenn sie glaubte, er wolle ihr irgendetwas vorwerfen. Konnte ihr nicht egal sein, was er von ihr dachte? Wieder hob Jul beschwichtigend die Hände, versuchte sich an einem Lächeln. Dann reichte er Amanda das kleine Telefon. »Versuch dein Glück.«
Nach einem weiteren düsteren Blick vertiefte sie sich tatsächlich in das Gerät, und Jul passte seine Geschwindigkeit ihren langsamer werdenden Schritten an.
Schließlich gab sie einen unwilligen Laut von sich. »Die Trümmer blockieren den Empfang.«
Musste sie ihn daran erinnern, was sich über ihren Köpfen türmte? Ehe Jul antworten konnte, ging sie ein paar Schritte bis zu einem Spalt in der Decke, durch den ein schmaler Lichtstrahl drang. Dort hielt sie das Handy in die Höhe und tippte mit dem Finger auf einige Icons.
»Hier stand mal das Berolinahaus, wie’s scheint. Wo der C&A war. Das hier könnte eines der Bürostockwerke sein.« Während Amanda sprach, wandte sie sich erneut Jul zu, um ihm das Handy zurückzugeben. »Das heißt, es …« Sie stockte, erstarrte mitten in der Bewegung, den Blick auf etwas hinter ihm gerichtet.
Jul wirbelte herum. Noch ehe er die Bewegung beendet hatte, hielt er die Pistole schussbereit in der Hand. Doch er zielte nur auf leere Luft.
Vor ihm öffnete sich eine Tür in ein weiteres Büro. Der Raum war halb mit Schutt gefüllt. Ein süßlicher, muffiger Geruch wehte Jul entgegen, schwach genug, dass er ihn erst jetzt bemerkte. Mit dem Blick suchte er die Trümmer ab und blieb schließlich an etwas hängen, das er fast für einen Teil des Schutts gehalten hätte: eine Hand. Sie ragte zwischen zwei Gipsplatten hervor, staubig und grau.
»Scheiße.« Amanda starrte noch immer in den Raum hinein, ohne sich zu rühren, in den Zügen eine Mischung aus Ekel und Entsetzen.
Jul dachte an die Blumen, die oben vor der Absperrung lagen. Welche davon waren wohl für den Besitzer dieser Hand bestimmt? Doch was war, wenn dieser Mensch noch lebte? Vielleicht stammte der Verwesungsgeruch, der ihm immer deutlicher in die Nase stieg, von einem zweiten, tiefer im Schutt vergrabenen Körper.
Jul trat in den Raum, beugte sich zu der Hand herunter. Sie war kalt, die Haut unnatürlich schwammig. Nur um sicherzugehen, schickte er seine Heilkraft in den toten Körper. Kurz spielte das blaue Glühen über die staubigen Finger. Doch es fand keinen Halt und erlosch. Es war wie bei dem Senator in dem verlassenen U-Bahn-Tunnel. Jul konnte die Seele des Toten nicht erreichen. Nur, dass sie bei dem
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