Aethermagie
gewusst hätte, dass er immer und vor allem ein höheres Ziel vor Augen hatte und das Schicksal eines einzelnen Menschen ihm dagegen unwichtig erschien …
Sie schüttelte sich heftig und ließ endlich das Gähnen zu, das ihr beinahe den Kiefer verrenkte. Ein Bett und zwölf Stunden ungestörter Schlaf – sie hätte ihre Seele dafür gegeben!
Stattdessen fuhr sie ordnend mit den Fingern durch ihre Haare, rieb sich fest übers Gesicht und folgte Pejić.
Eine Mietdroschke wartete im Hof. Katya blieb an der Eingangstür des Hauses stehen und verschränkte die Arme. Ihre Finger trommelten nervös gegen ihren Ellbogen. Das Gefühl der Dringlichkeit, das sie den ganzen Tag schon begleitete, verstärkte sich mit jeder Minute. Ihre Zeit lief ab. Sie wusste nicht, woher dieses Wissen kam, aber sie hatte gelernt, ihrer Intuition zu vertrauen und sich nicht davon abbringen zu lassen, entsprechend zu agieren.
Endlich hörte sie hallende Schritte im Gleichtakt aus dem Inneren des Hauses herannahen. Die beiden dunkel gekleideten jungen Männer mit den geschorenen Köpfen, die Anselm ihr mitgegeben hatte, schleppten einen dritten zwischen sich her. Er war kaum in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen, die halbe Zeit schleiften seine Beine über den Boden und sein Kopf wackelte haltlos hin und her. Katya musterte ihn mit zusammengepressten Lippen. Simon stand noch immer unter dem Einfluss der Drogen, die Rados ihm wahrscheinlich über einen langen Zeitraum hinweg eingeflößt hatte. Sie betete darum, dass der Aufenthalt im Ordenshaus Simon seiner geistigen und körperlichen Gesundung näherbringen würde.
Als die beiden Männer ihn an ihr vorbei zur Droschke schleiften, hob er für einen Moment den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Seine Augen waren trüb, seine Züge erschlafft, aber dennoch war da ein Funke, ein winziger Augenblick, in dem er sie zu erkennen schien.
»Geh mit ihnen, Simon«, sagte sie leise. »Sie werden dir helfen.«
Aber der Moment war schon vorüber. Sein Kopf sank auf die Brust, er sackte in den haltenden Griff eines der Männer, während der andere den Schlag der Droschke öffnete. Sie hievten den schweren Mann mit den geübten Griffen von Müllersburschen, die einen Sack Mehl verstauten, ins Innere des Gefährts, einer kletterte hinterher, der andere sprang auf den Bock der Droschke, die Peitsche knallte, und Pejić, der am Tor gewartet hatte, gab dem Wächter ein Zeichen. Das Tor schwang auf, die Droschke ratterte hinaus und auf die Straße.
Katya sah, wie das Tor wieder verriegelt wurde, und atmete auf. Sie wandte sich um, wollte ins Haus zurückkehren und wurde durch einen Mann in Uniform aufgehalten, der im gleichen Moment zur Tür hinaustrat. »Nagy«, sagte er scharf, »was geht hier vor?«
Oberstleutnant Rauschenberg. Einer der Adjutanten von Windesbergs. Katya erwiderte seinen Blick so ausdruckslos wie es ihr möglich war, obwohl sie den Kerl am liebsten geohrfeigt hätte, weil er sie so respektlos anredete. »
Major
Nagy, Herr Rauschenberg«, erwiderte sie eisig.
Der Oberstleutnant verzog den Mund zu einem höhnischen Lächeln. »Um Vergebung, Frau Major«, sagte er betont. »Beantworten Sie meine Frage?«
»Der Mann wird ins Brünnlfeld überführt«, erwiderte Katya knapp. »Eine akute Psychose.«
»Warum war er hier?«
»Vermutete Verbindungen zu einer anarchistischen Zelle, die wir seit dem letzten Winter beobachten. Aber, wie gesagt …« Sie vollführte eine bezeichnende Geste. »Er ist ein Spinner, kein Verschwörer.«
Der Oberstleutnant nickte knapp. »Ich erwarte Ihren Bericht.«
Katya drängte sich an ihm vorbei ins Haus und ging hoch aufgerichtet den Korridor hinunter. Sie spürte seine Blicke wie Messer in ihrem Rücken. Der Kreis zog sich immer enger. Sie musste die Kaiserin aufsuchen!
Wie immer wurde Katya von einem der Sekretäre des Kaiserlichen Vorzimmers empfangen – eine Bande von aufgeblasenen Wichtigtuern und Sturköpfen. Dieses Mal kam ihr zu ihrer Erleichterung der Sekretär Felsenstein entgegen, ein ältlicher, umständlich-betulicher kleiner Mann mit Tintenflecken auf den Ärmelschonern. Er vermittelte wie immer in Vollendung das Abbild eines subalternen Schreibers aus einer verstaubten Vorstadt-Kanzlei. Katya drückte seine Hand und lächelte erleichtert. »Gut, dass Sie es sind, Gregor. Ich muss dringend zu Ihrer Majestät.«
Er schob den Zwicker auf der Nase zurecht und nickte zweifelnd. »Ich fürchte, das wird nicht gehen, Katalin. Ihre
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