Aethermagie
geschleppt. Vorsichtig rührte er an seine Erinnerung an den ausgestandenen Schrecken wie an einen losen Zahn. Er hätte niemals erwartet, dass er schon am Tag seiner Ankunft an einen Punkt geraten würde, an dem er zusammenklappte wie ein Feigling, ein winselnder Schwächling, ein jämmerlicher Maulheld. Und warum war er zusammengebrochen? Weil man ihm körperliche und seelische Torturen zugefügt hatte? Unmenschliche Qualen, die niemand länger erdulden konnte, ohne zu sterben oder wahnsinnig zu werden? Nein. Er war in ein warmes Bad gesteckt worden und dann hatte der Wärter die Tür geschlossen und das Licht gelöscht. Und der große, starke, mutige Jewgenij Danilowitsch Sorokin hatte angefangen zu schreien.
Er stöhnte, sank auf die Kante der schmalen Pritsche und legte das Gesicht in die Hände. Er würde Katya enttäuschen, er würde ihre Sache verraten, er würde jämmerlich scheitern. Wahrscheinlich hätte sie besser daran getan, den zähen Drago Pejić an seiner Stelle zu schicken.
Er atmete tief ein und aus und hob den Kopf. Was mochte ihn heute erwarten? Noch so eine Folter, nach der man ihm Beruhigungsmittel verabreichen musste? Vielleicht würde Professor Charcot ihm Blut abnehmen oder er musste sich gar den namenlosen Schrecken des Gemüsegartens stellen, der von den Insassen gepflegt wurde. Oh, der schreckerregende Blumenkohl!
Jewgenij biss die Zähne zusammen und hob den Kopf. Genug Selbstmitleid, Jewgenij Danilowitsch. Lass deine alte Haut hinter dir wie eine Schlange. Ab jetzt bist du nur noch Baldo Moroni, Nummer 329.
Als die Tür sich öffnete, lächelte er.
Der graugesichtige Wärter, der sich zu ihm hereinschob, hatte die Statur eines Ringers und wieselflinke Augen. Er drückte die Tür hinter sich zu und sah Jewgenij starr an. »Baldo Moroni?«, fragte er und drückte Jewgenij, als dieser nickte, etwas in die Finger. »Ich zeige dir die Station und erkläre dir alles.«
Jewgenij blickte auf das, was der Wärter ihm gegeben hatte: eine schlichte Kette mit einem daran baumelnden Anhänger, der eine liegende Acht darstellte. Katyas Kette. Er sah auf und in das Gesicht des Wärters, der ihm zunickte und dann auf den schmalen Spind zeigte, der neben dem Bett stand. Während er den Spind anhob und ein Stück von der Wand abrückte, sagte er in barschem Ton: »Ich bin Johannsen, für dich ›Herr Hilfswärter Johannsen‹, 329. Ich vertrage kein Ungehorsam. Wenn du aufmuckst, landest du in der Jacke.« In der Wand hinter dem Spind befand sich ein roh herausgebrochenes Loch in der Mauer. Der Wärter zog ein paar Gegenstände aus seiner Kitteltasche, die er Jewgenij zeigte und dann in ein Mauerloch legte, während er weiter über die Station und den Tagesablauf sprach. Schreibpapier, zwei Bleistifte und ein kleines Messer, ein Notizblock. Er sah Jewgenij an, der nickte und den Daumen hob. Gute Arbeit. Johannsen nickte, dann deutete er auf den Anhänger. Jewgenij zögerte und legte ihn zu den anderen Dingen in das Mauerloch. Er konnte sich die Kette schlecht um den Hals legen, aber es war ein gutes Gefühl, sie bei sich zu haben.
Der Wärter trat zurück und ließ Jewgenij den Spind an die Wand rücken. Es ging leicht und leise. Hier würde er also seine Berichte an Katya deponieren, die der V-Mann dann aus der Anstalt schmuggeln musste. Beide sahen sich an. Johannsen grinste schief und Jewgenij erwiderte das Lächeln.
Dann öffnete der Wärter die Tür und kommandierte: »Abmarsch, 329!«
Zwei Ärzte – der ihm bereits bekannte Dr. Stadler und ein Arzt mit graublondem Vollbart – und zwei Wärter, einer davon der Hilfswärter Johannsen, warteten am Nachmittag in einem leeren Zimmer auf ihn. Jewgenij, der sich nur schwer an den Gedanken gewöhnen konnte, eingesperrt zu sein, was ihm erstaunlich zu schaffen machte, sah in das Gesicht Johannsens, der ihm beruhigend zunickte. Bei ihrem Rundgang am Morgen waren sie unterbrochen worden, weil Johannsen abberufen worden war, und Jewgenij hatte den halben Tag untätig im sogenannten »Gemeinschaftsraum« gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Er hatte versucht, mit einigen der anderen dort Eingeschlossenen zu reden, aber das hatte keine – oder vielmehr nur sehr verwirrende – Ergebnisse gebracht.
Also hatte er Patiencen gelegt und sich den Kopf darüber zerbrochen, ob und wie es ihm gelingen sollte, hier zu ermitteln, wenn er seine Zeit in abgeriegelten Räumen zu verbringen gezwungen war.
Jetzt also saß er dem Tribunal gegenüber und
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