Aethermagie
nach mir ginge, würde man jemanden wie Sie irgendwo einmauern und für immer vergessen!« Er war im Verlauf seiner Rede immer lauter geworden. Jewgenij betrachtete ihn gebannt.
»Zsigmond«, sagte eine mahnende, sanfte Stimme. Die Tür zum Nebenraum stand weit offen, und die weißhaarige, väterliche Gestalt des Anstaltsdirektors füllte sie aus. »Echauffieren Sie sich nicht so vor einem Patienten. Legen Sie sich ein paar Minuten aufs Ohr – das ist ein Befehl.«
Rados nickte mit zusammengepressten Lippen, schob seinen Stuhl zurück und verließ den Raum. Professor Charcot sah ihm nach. »Er schläft zu wenig und arbeitet zu viel«, sagte er. »Der Krieg, der Krieg …« Er nahm die Akte auf und überflog die neu hinzugefügten Formulare und Aufzeichnungen, dann klappte er den Aktendeckel zusammen und klemmte ihn unter den Arm. »Kommen Sie«, sagte er mit einer auffordernden Handbewegung. »Ich habe Sie Ihres Arztes beraubt, also werde ich für den Moment seine Aufgabe übernehmen. Folgen Sie mir, Herr Moroni.«
Er legte seine Hand auf Jewgenijs Arm und geleitete ihn zu einer schmalen Tür, die er auf- und hinter ihnen wieder abschloss. »Sie haben von Abteilung D gehört?«, fragte er, während sie in ein Treppenhaus traten und die Treppe hinaufzusteigen begannen.
»Ja«, erwiderte Jewgenij. »Ich habe allerdings den Eindruck gewonnen, dass ich mich davor fürchten sollte.«
Der Arzt warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. »Sie wirken nicht wie ein furchtsamer Mensch«, erwiderte er mit einem ironischen Lächeln. »Offen gesagt: Sie wirken auf den ersten Blick auch nicht wie jemand, der über eine allzu lebhafte Fantasie verfügt. Aber ich scheine mich in Ihnen zu irren, Herr Moroni. Sie sind ein Mann mit vielen Gesichtern und offenbar verborgenen Qualitäten.«
Jewgenij biss die Zähne zusammen und schimpfte sich stumm einen Idioten. Er hatte für einen Augenblick vollkommen vergessen, dass er eine Rolle zu spielen hatte. Aber Charcots nächste Worte zerstreuten seine Sorgen.
»Es passt allerdings zu der ersten Diagnose, die ich aufgrund der bisher vorhandenen Informationen gestellt habe«, fuhr der Anstaltsleiter fort. »Sie sind keineswegs unintelligent und verfügen über die Rudimente einer ordentlichen Erziehung.« Er blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah Jewgenij eindringlich an. »Ihre Sprechweise ist verroht, aber Sie zeigen durchaus Überreste eines vormals vorhandenen kultivierten und manierlichen Benehmens. Ihre Wurzeln liegen offensichtlich nicht in der ›Gosse‹, wie mein Kollege es formulieren würde.«
Jewgenij nickte stumm. Der Arzt lächelte und drückte seinen Arm. »Sehen Sie. In der Vergangenheit ist etwas mit Ihnen geschehen, das Ihren Geist verdreht, pervertiert und verkrüppelt hat. Ich freue mich darauf, Ihnen zu helfen, Herr Moroni!«
Den Rest des Aufstiegs legten sie schweigend zurück. Jewgenij fühlte sich erschüttert und desorientiert. Er war hier, um diesen Mann und sein Institut auszuspionieren, aber was er bisher erfahren und gesehen hatte, sprach in keiner Weise gegen Charcot.
»Sie haben keinerlei Vorbehalte, wenn Ihre Patienten Verbrecher sind?«, brach Jewgenij das Schweigen, als sie auf dem obersten Treppenabsatz vor einer geschlossenen Tür angelangt waren und Charcot seinen Schlüssel zückte. Der Professor hielt inne und sah zu Jewgenij auf. Er schien nachdenklich und gleichzeitig überrascht von der Frage.
»Sehen Sie, Herr Moroni«, sagte er dann, »es gibt doch nur zwei Möglichkeiten. Entweder jemand ist ein Verbrecher, dann gehört er in eine Strafanstalt. Oder er ist geisteskrank und hier bei mir genau am richtigen Ort. Und dann darf und sollte man in keiner anderen Weise mehr von diesem bedauernswerten Kranken sprechen, sondern sich mit allen Kräften darum bemühen, sein Leiden zu lindern.« Er nickte Jewgenij bekräftigend zu und schloss die Tür auf.
Jewgenij ging tief in Gedanken neben dem Professor her. Auch hier, in dieser obersten Etage des riesigen Hauses, zeugten die hohen, breiten Gänge gleichzeitig von beeindruckender ehemaliger Herrschaftlichkeit und offensichtlicher gegenwärtiger Abnutzung. Es roch durchdringend nach Kernseife und Karbol, der Bodenbelag glänzte vor Sauberkeit, war aber abgetreten und stellenweise schadhaft. Der Putz der Wände war von Rissen durchzogen, aber nirgendwo sah man eine Spinnwebe oder gar Schmutz.
»Da wären wir also«, sagte Charcot und lächelte verhalten. »Das Direktorium hat sich entschieden,
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