Aethermagie
werden immer länger. Seit Tagen warte ich darauf, dass J. wiederkommt und meine Briefe mitnimmt, aber er ist wie vom Erdboden verschwunden. Ich habe einen der Wärter nach ihm gefragt, aber er konnte oder wollte mir keine Antwort geben. Was soll ich nur tun? Wie kann ich nun mit K. in Verbindung treten?«
Moroni blickte auf und starrte die Wand an. In seinem Kopf waren Stimmen, fremde Stimmen. Sie riefen, sprachen durcheinander, lachten.
Shenja
, sagte eine Frauenstimme zärtlich.
Mein Shenja
. Eine heisere Männerstimme rief:
»Ducken, Kommissär Sorokin. Er schießt auf uns!«
Dann wieder die Frauenstimme, singend.
L’amour est un oiseau rebelle, que nul ne peut apprivoiser …
Er hörte sich selbst summen, tief, selbstvergessen. Öffnete den Mund, sang:
»Dormirò sol nel manto mio regal, quando la mia giornata è giunta a sera«
, erschrak über seine Stimme, die laut war, voll, tief, von den Wänden widerhallte und in seine Ohren donnerte wie ein Schrei. Er presste die Hände gegen die Ohren und stöhnte. Irgendwo spielte ein Cello eine unendlich traurige Melodie …
Er zwang sich, den Stimmen und Tönen nicht mehr zu lauschen, griff wie ein Ertrinkender nach dem Notizbuch, schlug wahllos eine Seite auf, las:
ich bin ichbin ichbinbin mein name ich binmoroni neinneindas ist nicht ich bin heiße evgbaldo evgen gen ichbinichwar hilfe helft mir doch ich bin gehöre nicht hier ich ich verschwundich ichich 329 ich …
Der Rest der Seite war bedeckt mit einer zittrigen, schwachen Linie des Stiftes, die am unteren Rand ins Nichts lief. Die folgenden Seiten waren leer.
Er warf das Notizbuch von sich wie einen vergifteten Apfel, verbarg das Gesicht in den Händen.
Ich
, dachte er.
Er sah nicht auf, regte sich nicht, als jemand seine Zelle betrat. »Alles in Ordnung?«, fragte der Wärter. Grünwald. Moroni nickte nur. Er hörte, wie der Wärter das Notizbuch von der Bettdecke nahm. »Lass es nicht herumliegen«, sagte er. »Soll ich es für dich verwahren?«
Wieder nickte er.
»Du bekommst gleich deine Spritze.« Grünwald sprach leise, als wollte er nicht, dass jemand ihn hörte. »Pass auf, Moroni. Du solltest nach der Spritze einen Tag lang nichts essen. Hast du mich verstanden? Es darf aber niemand merken. Hörst du mir zu?«
Er hob den Kopf und sah den Wärter an. Grünwald war freundlich. Er hatte ihn noch nie geschlagen oder angeschrien. Wenn Grünwald sagte, er solle nichts essen, würde er es tun. Auch wenn er immer so hungrig war. So hungrig.
»Hungrig«, sagte er.
Der Wärter nickte. »Ich weiß, mein Junge. Aber du bist stark, ein guter Junge. Du tust es, weil ich dich darum bitte. Willst du das tun?«
Moroni nickte und vergrub das Gesicht wieder in den Händen. Der Wärter klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter. »Alles wird gut«, sagte er. »Sei nicht so verzweifelt. Ich passe doch auf dich auf.«
4
Der Alchemist
Kato brannte auf einen zweiten Besuch bei Horatius Tiez. Da waren so viele Fragen, die sie ihm stellen wollte. Warum ließ er sein Plasmateufelchen ohne Käfig leuchten? Sie hatte immer angenommen, dass das Silbergitter für den Betrieb der Lampen und Dampfgeräte notwendig war – und auch, um die Gefahr zu mindern, dass so ein Elementarwesen entkommen konnte.
Sie suchte in der väterlichen Bibliothek nach Werken über Elementarphysik und Ætherwissenschaft, um herauszufinden, wie das alles zusammenhing. Bisher hatte sie sich keine Gedanken über die Ætherwesen gemacht. Sie sorgten dafür, dass Licht, Dampf und Wärme produziert wurden – aber warum taten sie das? Und wieso durfte man nicht erkennen lassen, dass man sie sah und mit ihnen sprechen konnte? Und wieso – und das war das größte Wieso von allen – wieso konnten nicht alle Menschen sie sehen?
Die Bücher waren keine Hilfe. In ihnen war nur sehr vage und ungenau von »elementaren Kräften« die Rede, die erzeugt, gebändigt, gebündelt und geleitet werden mussten, um den Menschen zu dienen.
Aber wie erzeugte man diese Elementarwesen?
Kato fasste sich ein Herz und klopfte gegen Abend zart an die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters. »Papa?«, rief sie. »Ich bin es, Kato.«
»Komm nur herein«, antwortete die müde Stimme des Freiherrn.
Kato öffnete die Tür und sah ihren Vater im Lehnstuhl am Fenster sitzen, neben sich den großen Aschenbecher, ein Glas und die Cognacflasche. Auf dem Tisch brannten Kerzen in einem Kandelaber, im Raum war es stickig, weil die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen
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