Aethermagie
hatte sie schon einmal gefragt, wie sie über einen Eintritt dachte, aber sie hatte abgelehnt. »Tritt nun aus der Zeit in die Zeitlosigkeit«, murmelte sie die Worte des feierlichen Empfangs. Sie war mit den anderen Laienmitgliedern des Hohen Rates schon mehrmals zugegen gewesen, wenn einer aus ihrer Mitte sich in die weit geöffneten Arme des Ordens begeben hatte und damit zu einem der Unsterblichen geworden war. Diese Vorstellung war gleichermaßen faszinierend und erschreckend.
So in Gedanken allerlei Fragen und Probleme wälzend war sie mittlerweile vor Horatius Tiez’ Laden angelangt. Sie blickte an der schmalen Hausfassade empor und fragte sich nicht zum ersten Mal, wer wohl in den Geschossen über dem Geschäft wohnen mochte – und ob sich diese Wohnungen auch so unberechenbar in ihren Ausdehnungen verhielten, mit unvermutet erscheinenden und wieder verschwindenden Räumen.
Dann öffnete sie mit einem entschiedenen Ruck die Ladentür. Die Glocke bimmelte erschreckt. Sie durchquerte den vorderen Raum und betrat den Korridor – wie immer mit einem leisen Gefühl der Unsicherheit. Einmal hatte sie sich in den Tiefen der endlosen Schleife verlaufen und war nur durch den beherzten Einsatz der Milan-Zwillinge gerettet worden, die mit Sicherungsleinen und einem Suchgerät losgezogen waren, um sie wieder ans Tageslicht zu führen.
Der Rote Milan hatte ihr danach zu erklären versucht, wieso man sich in einem nicht sonderlich großen Gebäude so heillos verlaufen konnte, dass man nicht alleine wieder hinausfand. Er hatte von der relativ stabilen Achse gesprochen, die durch den Korridor gebildet wurde. Der lange Flur hielt das Haus und seine Räume an diesem Ort und in dieser Zeit, weil Professor Tiez die beiden Enden der Achse fest verankert hatte, sodass sie die Form einer liegenden Acht bildete.
»Die Lemniskate, das Zeichen für Unendlichkeit«, hatte Katya gemurmelt, und Milan hatte bestätigend genickt.
Diese Lemniskate hatte allerdings noch eine zusätzliche Verdrehung erfahren, die sie zu einem Möbiusband machte – einem Gebilde, das nur eine einzige, endlose Seite besaß. Von dieser Achse gingen alle Räume ab und veränderten aufgrund des labilen ætherphysikalischen Zustandes der Konstruktion ständig ihre Position.
»Der Korridor ist endlos, aber nicht unendlich, und weil er das ist, verdreht sich in und um ihn die Zeit ebenfalls auf seltsame Weise«, hatte Milan seine Ausführungen beendet.
Katya war danach nicht viel klüger gewesen, aber ihr Erlebnis hatte sie gelehrt, sich nicht allzu sorglos in dem vollgestellten Flur zu bewegen – und vor allem keine der Türen zu durchschreiten, die sie auf ihrem Weg fand, ohne vorher einen Blick in das Zimmer dahinter zu werfen.
Sie tastete sich zu der Tür vor, hinter der für gewöhnlich das Tiez’sche Wohnzimmer zu finden war, und klopfte an. »Herein«, erklang es von drinnen. Katya drückte erleichtert die Klinke herunter und betrat eine hell erleuchtete, mit Apparaturen und Instrumenten vollgestopfte Werkstatt.
Horatius Tiez stand neben dem Schwarzen Milan an einer Werkbank. Beide trugen Lederschürzen, dicke Stulpenhandschuhe und Schutzbrillen, die ihnen das glotzäugige Aussehen von Insekten verliehen. Der Schwarze Milan blickte auf, knurrte und widmete sich wieder seinen Hantierungen mit einer Zange und einem offensichtlich rotglühenden Gefäß, in dem etwas Schwärzliches mit silbernen Schlieren brodelte.
»Meine Liebe«, rief der Professor und schob die Brille ungeschickt mit den Daumen auf die Stirn. »Waren wir verabredet? Wie unhöflich und nachlässig von mir!« Er schüttelte die Handschuhe ab und kam zu ihr.
»Nein, nein«, beeilte Katya sich zu versichern. »Ich bin es, die unhöflich ist, Horatius – ich vergaß dich zu informieren. Unser Freund bat um ein erneutes Treffen.«
Tiez legte die Schürze ab und rieb sich über die Stirn, wobei er gegen die Schutzbrille stieß. Er riss sie mit einem unwilligen Murmeln vom Kopf und warf sie in ein Regal. »Ruf deinen Bruder, damit er dir hilft«, wies er den jungen Mann an.
Milan nickte knapp und senkte das glühende Gefäß in einen Wasserbottich. Es zischte, und Dampf hüllte alles in dichten Nebel.
»Gehen wir.« Tiez schob Katya in den Korridor. »Alchemistische Forschung«, erklärte er. »Eine Wissenschaft, die zu Unrecht missachtet wird. Der junge Pater kommt her, sagst du?«
Katya schmunzelte. Grünwald war schon lange kein junger Mann mehr – und wenn sie in Betracht
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