Aethermagie
zog, dass Josip als Ordensgründer wohl schon vor gut einhundert Jahren aus der Zeit getreten war, dann konnte nur so jemand wie Horatius Tiez ihn noch als »jung« bezeichnen.
Er öffnete wenige Schritte später eine auf der gegenüberliegenden Seite auftauchende Tür und ließ Katya eintreten.
»Wie findest du dein Wohnzimmer nur immer wieder?«, fragte sie seufzend und nahm auf dem durchgesessenen Sofa Platz.
Horatius Tiez, der mit einer Keksdose herumhantierte, sah sie fragend an. »Wiederfinden?« Er öffnete den Deckel der Dose, wobei er sich einen Nagel einriss, den er missmutig betrachtete. »Es ist immer hier an dieser Stelle«, sagte er undeutlich, weil er auf dem Nagel herumbiss. »Man muss nur die Rotation der Erde und die Bewegung des Sonnensystems einkalkulieren, aber das geht einem mit der Zeit in Fleisch und Blut über. Tee?« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer durch die Tapetentür am anderen Ende. Katya hörte das Klappern des Wasserkessels und das Zischen, mit dem eine Ætherflamme entzündet wurde. Es war so friedlich und ruhig, dass Katya fühlte, wie alle Spannung von ihr abfiel. Sie schloss die Augen und lauschte den Geräuschen im Nebenraum.
Als die Tür sich öffnete und jemand mit schweren Schritten eintrat, schrak sie hoch. Sie blinzelte und blickte auf eine kolossale Gestalt, die den Türrahmen nicht nur ausfüllte, sondern nahezu zu sprengen drohte. Sie war aufgesprungen und zurückgewichen, ehe ihr Verstand begriff, was ihre Augen ihr zeigten. Er war noch weitaus größer und massiger als sie ihn von ihrer letzten Begegnung in Erinnerung hatte – oder war er weiter gewachsen? Aber sein Gesicht, der Ausdruck seiner Augen, seine Haltung glichen wieder ein wenig mehr dem Mann, den sie kannte. Er blieb abwartend stehen, näherte sich nicht weiter, und an der vorsichtigen Reserviertheit seines Gesichtsausdruckes konnte sie erkennen, dass er mit einer Zurückweisung rechnete und sich dagegen zu wappnen suchte.
»Shenja?«, rief sie, und ein Kloß drohte ihre Stimme zu ersticken. »Shenja!« Und sie lief auf ihn zu, sprang an ihm empor, warf die Arme um seinen Nacken und bedeckte sein Gesicht mit Küssen, während emporschießende Tränen ihr die Sicht verschleierten.
Er ließ mit einem tiefen Seufzen, das beinahe ein Stöhnen war, seine angespannten Schultern sinken und umfasste sie so behutsam wie einen porzellanenen Vogel. »Katya«, sagte er, und seine Stimme war nicht minder erstickt als die ihre.
Sie bemerkte nur am Rande, dass der Pater Guardianus sich hinter Jewgenij ins Zimmer schob und durch die andere Tür der Professor trat, ein Tablett mit Tassen und Teekanne in den Händen.
»Wie geht es dir?«, flüsterte Katya. Sie hatte ihre Hände um sein Gesicht gelegt und badete in seinem so lange so schmerzlich vermissten Anblick wie eine Verdurstende, die ihr Gesicht in das kühle Wasser einer Oase taucht. »Was haben sie dir getan? Ich habe gelesen, was du geschrieben hast. Bist du wieder ganz du selbst?« Sie unterbrach sich, weil sich ein Schatten über sein Gesicht legte. Er ließ sie ebenso behutsam los, wie er sie umfangen hatte, und wandte sich halb ab. Katyas Herz wurde zu kaltem Stein.
»Heute ist ein guter Tag«, sagte Jewgenij, und seine Stimme klang mit einem Mal leblos. »Heute erinnere ich mich, wenn auch nicht an alles. Was morgen sein wird, weiß ich nicht.« Er drehte seinen Kopf zu Grünwald. »Du musst es ihr erklären.«
Katya sah den Pater Guardianus an. Sie bemerkte, dass sie ihre Hände in den Stoff ihres Rocks gekrallt hatte, und zwang sich, die Finger zu entspannen. »Was musst du mir erklären?«, fragte sie hart.
»Setzt euch hin«, befahl Horatius Tiez mit ungewohnter Autorität. Katya fand sich zu ihrer eigenen Überraschung auf dem Sofa wieder, und nach kurzem Zögern und einem skeptischen Blick auf das Möbelstück ließ sich Jewgenij sehr vorsichtig neben ihr nieder. Katya genoss es, seine Nähe zu spüren. Sie lehnte sich an ihn und er legte wieder seinen Arm um sie.
»Tee«, sagte der Professor mit einem energischen Schwenken der Kanne, bei dem ein großzügiger Schluck auf den Teppich spritzte. Grünwald nahm ihm eilig die Kanne aus der Hand und übernahm das Einschenken.
»Jewgenij ist immer noch in das Versuchsprogramm eingebunden«, erklärte der Pater, während er Katyas Tasse füllte. »Er ist ein Geschenk für Charcot und seinen Getreuen Rados. Normalerweise ist ein solcher Verstärker nach einem Dutzend Koppelungen vollkommen
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