Aetherresonanz (Aetherwelt) (German Edition)
Frauen, die selig lächelnd christliche Lieder sangen. Ihre Kleider waren schmutzig und zerrissen, ihre Gesichter hohlwangig und blass. Annabelle sah an ihnen vorbei nach oben, wo der Turm der Burgruine in Sicht gekommen war. Auf dem höchsten Punkt stand Georg Hartmann, spärlich bekleidet mit einer weißen Hose, aber mit nacktem Oberkörper. Der Veränderte hatte seine unglaublichen weißen Flügel weit ausgebreitet und überblickte die Rheinebene. Es sah aus, als würde er sich gleich hinunterstürzen, die ziehenden Wolkenpakete über ihm unterstützten diesen Effekt.
Annabelle stockte der Atem, obwohl sie den Veränderten früher schon gesehen hatte. Aber zu dieser Zeit war sie verwirrt und voller Angst gewesen. Wie ein Engel war er damals aus dem Schneesturm aufgetaucht und hatte seinen Bruder mitgenommen.
Und wie ein Engel stand er jetzt auf dem Turm, der Wind zerrte an seinen weißblonden Haaren und Flügeln. Er war beeindruckend und fremdartig, eine lebendig gewordene Verheißung, die scheinbare Inkarnation von Hoffnung und Erlösung.
Je näher sie der Burgruine kamen, desto voller wurde es. Die Menschen standen dicht an dicht gedrängelt und schwankten glücklich lächelnd, murmelnd und singend hin und her. Annabelle spürte die Ausstrahlung des Veränderten auch wie eine Wolke süßlichen Parfums auf sich einströmen. Frieden zog sich durch ihre Gedanken, die Wogen der Empörung glätteten sich. Sie blieb stehen.
Es war so wundervoll hier oben, unter all den Gleichgesinnten, und es gab überhaupt keinen Grund, sich nicht wohlzufühlen. Alle Sorgen schienen neben ihr zu stehen, und sie konnte sie von außen betrachten und darüber lächeln. Was kümmerte sie die Meinung der Anderen? Warum störte sie sich selbst an ihrer grünen Hand, die war doch wunderbar, ein Mittel um mehr über die Dinge zu erfahren, tiefer einzutauchen, und Gutes zu tun. Und warum konnte sie die Geschehnisse des letzten Winters nicht einfach vergessen und sich der reinen Liebe hingeben?
Annabelle zupfte an ihrem Handschuh um ihn auszuziehen, denn sicher war es noch wundervoller, diese Empfindungen mit ihrer befreiten linken Hand zu machen!? Aber Paul griff nach ihrem Arm und hinderte sie daran. Als er ihre Hand berührte, schien ein frischer Windhauch die Gedanken aus ihrem Kopf zu pusten. Sie sah wieder klarer und erkannte, dass auch sie von der Aura des Veränderten beeinflusst worden war.
„Spürst du es nicht?”, fragte sie Paul erstaunt.
„Doch”, sagte der, „aber ich habe eine Wahl. Ich kann dagegen ankämpfen.”
Annabelle sah zu ihrem Patenonkel, der ebenfalls schwankte. Sie wollte etwas sagen, als ein Aufschrei der Verzückung durch die Menge ging. Der Geflügelte hatte sich umgedreht und schwebte nun mit ein paar mächtig rauschenden Flügelschlägen zu ihnen herunter. Die Menschenflut drängte vorwärts, aber als er landete, schob er sie weg, wie ein Schwimmer das Wasser. Schritt für Schritt kam er näher, und die, die er berührte, verdrehten die Augen vor Verzückung.
Schließlich stand er vor ihnen und lächelte. Annabelle hielt Pauls Hand ganz fest, aber es war trotzdem, als würde man von der Präsenz des Veränderten vollständig eingehüllt, aufgefangen, geborgen, umsorgt, als könne man alles hinter sich lassen, vergessen …
Georg Hartmann nahm ihre rechte Hand und führte sie zu seinen Lippen. Annabelle war entsetzt und geehrt zugleich. Tausend Gedanken schossen durch ihren Kopf, um wie Regentropfen auf einer Scheibe zu zerplatzen und herunterzurinnen.
„Fräulein Rosenherz”, sagte Georg Hartmann, mit einer Stimme, die ihr eine Gänsehaut machte. „Es freut mich besonders.” Er ließ ihre Hand los und begrüßte auch Paul und Karl mit einem freundlichen Lächeln.
„Lassen sie uns an einen privateren Ort gehen.” Georg Hartmann führte sie in ein halb fertig gebautes großes Haus.
„Das wird mein Ort des Heils”, sagte er stolz, als sie durch ein kirchenähnliches Portal eintraten. Durch Pauls Händedruck gelang Annabelle der leise Zweifel daran, dass aus dieser Sache wirklich Heil entstehen könnte. Die Menschen draußen stimmten ein Kirchenlied an und sangen mit Inbrunst.
Sie wurden in einen fast fertigen Raum geführt, der sparsam möbliert durch ein großes Panoramafenster eine wunderbare Aussicht über die Rheinebene erlaubte. Nachdem Hartmann ihnen selbst etwas zu trinken gebracht hatte, setzte er sich auf einen Stuhl ohne Rückenlehne. Seine Flügel falteten sich raschelnd hinter
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