Aetherresonanz (Aetherwelt) (German Edition)
ähnlich, das Eingesperrtsein, das Ausgeliefertsein, die Schlösser – Valentin war zwar einmal ihr Freund gewesen, aber sie machte sich nichts mehr vor: Er lebte in seiner eigenen Welt, und die hatte nichts mit ihrer Realität gemeinsam. Sie rieb immer wieder ihre Finger an dem Kristall ihres Rings und bildete sich ein, es beruhige sie.
Er brachte sie zu einer Toilette, und sie erleichterte sich. Es gab auch ein Waschbecken; sie ließ das Wasser lange laufen und starrte einfach nur in das Becken – dann kam ihr ein Gedanke: Valentin hatte gesagt, es wäre Menschen oben im Haus! War Paul vielleicht da? Konnte es sein, dass er ganz nahe war, und welche Möglichkeit hatte sie, ihm ein Lebenszeichen zukommen zu lassen? Kurz entschlossen ließ sie ihren Handschuh hier liegen, was auch immer es nutzte.
Als sie ihre Hände an ihrem Rock abtrocknete, spürte sie die Pistole, die sie immer noch bei sich trug. War das ein Ausweg, eine Möglichkeit? Sie wusste es nicht. Sie sah sich in dem kleinen Spiegel und sah ein ihr fremdes Gesicht: Sie wusste, sie sah aus wie immer, etwas zerzauster und übernächtigt, aber eben Annabelle. Innerlich fühlte sie sich aber geschunden, blutleer und kraftlos. Der kurze Schlaf hatte keine Erleichterung, sondern nur weitere Desorientiertheit gebracht. Sie konnte sich nicht überwinden, die Schusswaffe hervorzuholen, also ging sie wieder nach draußen und folgte Valentin stumm. Er schloss eine weitere Tür auf und hinter ihr wieder ab. Der neue Raum war eine Werkstatt. In den Regalen lagen Werkzeuge und Maschinenteile, der Boden war übersät von Metallteilen, scharfen Spänen und Schräubchen. Es gab Arme und Beine, einen unfertigen Torso und mehrere Köpfe. Einer der Köpfe bewegte sogar seine Augen und schien sich auf sie zu fokussieren. In der Mitte des Raumes stand eine fertige Figur.
Die Figur stellte eine Frau dar. Sie trug ein altmodisches Kostüm und sah bis zu ihrem Kopf eigentlich ganz normal aus. Annabelle traute ihren Augen nicht, aber es gab keinen Zweifel. Der Kopf bestand aus einem Metallschädel, auf den etwas aufgezogen war, was wie Haut aussah. Zwischen einzelnen Lappen sah man es metallisch blitzen. Die Haare hatten unterschiedliche Längen und Qualitäten. Auf der einen Seite waren sie glatt, aber dazwischen gab es Locken, die auch eine andere Farbe hatten. Als Valentin näher trat und die Figur mit seiner Lampe erhellte, erkannte Annabelle, dass es sich tatsächlich um echte Haut handelte, die man mit ungelenken Stichen zusammengenäht hatte. Die Haut war aber sehr bleich und schien von verschiedenen Menschen genommen worden zu sein. Blutreste klebten noch an den Rändern. Sie schlug sich die Hände vor den Mund und unterdrückte gewaltsam ein Würgen.
Valentin sah sie lächelnd an.
„Erkennst du sie?”, fragte er neugierig. „Ich habe sie fertiggestellt, während du schliefst.”
Annabelle schüttelte den Kopf. Valentin strich einige Haare am Kopf der Figur zurecht, und Annabelle würgte, als sie sah, dass die Puppe sich seiner Berührung entgegen bewegte.
„Ja, das verstehe ich. Du hast sie ja nie gesehen, und die meisten Porträts hängen in den Räumen meines Vaters. Ich habe auch eines in meinem Zimmer.” Er berührte die Figur liebevoll. „Das ist der Grund, weshalb ich dich brauche. Das ist mein Geschenk an meinen Vater: meine Mutter. Und du sollst sie für mich vollkommen machen.”
Annabelle schluckte mühsam. Was wollte er von ihr? Oh Gott … Das konnte nicht sein Ernst sein.
„Was soll ich tun?”, flüsterte sie. Sie wollte es von ihm hören.
„Du kannst sie heilen, das Fleisch, dass es zusammen wächst”, sagte er hoffnungsvoll. „Und dann machen wir ihr eine schöne Frisur. Ich habe auch einen Hut.” Er lief durchs Zimmer und die Figur sah ihm nach. Der grüne Schemen löste sich wieder von Valentin und berührte die mechanische Frau an der Schulter. Sie hob den Arm und er schmiegte sich eng an sie. Als Valentin sich umdrehte und ihr den Hut entgegen hielt, zerfloss der Schemen in den Schatten und der Arm der Frau senkte sich langsam.
Annabelle war ganz froh, schon lange nichts mehr gegessen zu haben. Sie hätte es sonst wahrscheinlich nicht bei sich behalten.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann”, sagte sie heiser.
„Doch, natürlich”, sagte Valentin überzeugt. „Du hast doch auch Vater geheilt. Weißt du, du hättest ihn nicht heilen brauchen. Wenn er mit Mutter vereint ist, dann kann er endlich sterben. Es war schon so
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