Affinity Bridge
wäre nicht schön für unsere Eltern, wenn sie auf
einmal zwei kranke Töchter hätten.«
Veronica seufzte. »Ach, es ist so weit alles in Ordnung, Amelia. Ich
habe sehr aufregende Erlebnisse hinter mir, und du hast völlig recht damit,
dass Sir Maurice ein richtiger Held ist.« Sie lachte und blickte durch das
Fenster nach drauÃen, wo sich die Bäume im kräftigen Wind hin und her wiegten.
»Nach den Aufregungen der vergangenen Tage weià ich gar nicht, wie ich an
meinen Schreibtisch im Museum zurückkehren kann. Das kommt mir im Augenblick so
langweilig vor.«
Amelia lächelte wissend. »Oh, ich nehme doch an, dass dir noch viele
gefährliche Abenteuer bevorstehen, Veronica. Du warst ja schon früher so
draufgängerisch. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du lange hinter dem
Schreibtisch hockst.«
Veronica seufzte. Das Schweigen dehnte sich. Als sie gerade wieder
etwas sagen wollte, klopfte es leise an der Tür, und Dr. Mason steckte den Kopf
herein. »Meine Damen, ich fürchte, es wird Zeit, dass Amelia sich zur Ruhe
begibt. Ich dränge Sie nur ungern, aber ich glaube, wir sollten besser dafür Sorge
tragen, ehe die anderen Patienten von ihrem Hofgang zurückkehren.«
Veronica lächelte Amelia traurig an, beugte sich vor und küsste sie
zärtlich auf die Wange. Dann stand sie auf. »Pass auf dich auf, Schwesterchen.
In ein paar Tagen komme ich wieder her und sehe, wie es dir geht.«
Amelia nickte. »Bis dann.«
Dr. Mason hielt Veronica die Tür auf. Sie ging hinaus, ohne sich
noch einmal umzudrehen, weil ihr die Tränen in den Augen standen.
Der junge Mann lümmelte immer noch auf der Holzbank, als
Veronica die Anstalt verlieÃ. Wieder überlegte sie, woher sie ihn kannte, doch
irgendwie konnte sie es nicht ergründen. Sie war absolut sicher, dieses
Gesicht anderswo schon einmal gesehen zu haben. Nachdem sie sich auf dem
Kiesweg einige Schritte entfernt hatte, wurde ihr klar, dass es ihr schlieÃlich
doch keine Ruhe lassen würde. So drehte sie sich um und wandte sich an eine
Aufseherin, die einerseits über Veronicas plötzliches Auftauchen amüsiert
schien, andererseits aber auch ein wenig gereizt wirkte, weil sie sich so
unvermutet bei ihrem Schwätzchen mit den Kolleginnen gestört sah.
»Verzeihen Sie, Schwester. Können Sie mir sagen, wer dieser Mann
ist?« Sie sprach mit gedämpfter Stimme, damit er es nicht hörte, und deutete
unauffällig auf ihn.
Die Pflegerin sah sich über die Schulter um und zuckte mit den
Achseln. »Ich habe keine Ahnung, Madam. Keiner hier weià es. Er wurde gestern
Abend eingeliefert, als das Licht schon gelöscht war. Die Nachtschwester bekam
die Anweisung, ihn vorübergehend einzuquartieren. Er war in einer
schrecklichen Verfassung, die Kleidung voller Blut von den schweren
Verletzungen an den Armen. Er sah aus, als hätte ihn ein wildes Tier
angefallen. Nach den Narben zu urteilen, die wir entdeckten, als wir ihn
wuschen, war es auch nicht das erste Mal.« Sie verzog die Mundwinkel.
»Jedenfalls haben wir ihn gesäubert und ihm ein Bett zum Ãbernachten gegeben.
Das ist auch schon alles. Einer der Einwohner aus der Nähe hat ihn gefunden,
wie er bibbernd in der Gosse am StraÃenrand hockte. Gestern Abend haben sie ihn
hergebracht, weil er offenbar kein normaler Trunkenbold war. Sie dachten, er
sei vielleicht ein Patient, der sich irgendwie aus dem Heim abgesetzt hatte.
Anscheinend kann er sich nicht mehr an seinen Namen und irgendwelche Verwandten
erinnern. Der arme Hund. Am Nachmittag holen sie ihn ab und bringen ihn in ein
staatliches Sanatorium.« Sie wandte sich an Veronica. »Warum wollen Sie das
wissen?«
Veronica runzelte die Stirn. »Aus irgendeinem Grund kommt er mir
bekannt vor ⦠o Gott!« Ãber die Schulter der Schwester hinweg starrte sie den
Mann an, der, in seiner ganz eigenen Welt verloren, zum Himmel hinaufstierte.
Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. »O Gott! Jack! Jack
Coulthard!« Sie lief zu ihm, kaum dass sie es erkannt hatte. »Sie sind Jack
Coulthard!«
Der Mann drehte sich mit fragendem Blick zu ihr herum. Er war
verwirrt und wusste nicht, wie er mit diesem Ausbruch einer Fremden umgehen
sollte, die ihn zu kennen behauptete. »Bin ich das?«
»Ja, ich glaube schon.« Sie lächelte breit und konnte beinahe nicht
an einen solchen Zufall glauben.
Weitere Kostenlose Bücher