Affinity Bridge
vor Schreck die
Augen weit auf. »Das war schon vor vielen Jahren in Indien. Meine Familie hatte
dort etwas Land gekauft, und damals war ich von okkulten Geschichten
fasziniert. Sobald sich die Gelegenheit bot, besuchte ich das Land. Ich blieb
zwei Jahre in Delhi, erforschte die indische Mythologie und suchte den wahren
Kern der alten Ãberlieferungen ihrer Kultur.« Er atmete schmerzhaft ein, als
die Droschke über das unebene Pflaster rumpelte und ihn auf dem Sitz hin und
her warf. »Ungefähr zur gleichen Zeit breitete sich in den Elendsvierteln eine
Seuche aus. Das Virus verwandelte die Opfer in torkelnde Kannibalen, hinderte
die Haut daran, sich zu regenerieren, und weitete die BlutgefäÃe in den Augen.«
Er hob eine Hand an den Mund und hustete.
»Die Wiedergänger.« Veronica tupfte ihm die Stirn ab.
Newbury nickte. »Die Wiedergänger. Als ich einen Tempel im Bergland
besuchen wollte, griff mich eine dieser widerwärtigen Kreaturen an. Sie biss
mich in die Brust, aber ich war jung und gewandt und konnte entkommen.
Irgendwie schaffte ich den Rückweg zum Haus meiner Familie in Delhi, wo man
sofort einen Arzt rief. Der indische Doktor sagte, seine Forschungen hätten
ergeben, dass das Virus acht Tage lang im Gehirn schlummere, ehe es die
Physiologie des Opfers nachhaltig verändere.«
»Was ist dann geschehen?«
»Sie haben mich in eine Zelle gesperrt und mir nichts als Wasser und
Brot gegeben. Acht Tage lang litt ich an einem schrecklichen Fieber. Am achten
Tag brach das Fieber, und ich erholte mich. Bald darauf schickte mich der Arzt
nach Hause. Er sagte, ich sei einer unter gerade mal einer Handvoll Menschen,
die seines Wissens die Seuche überlebt hätten.« Er blickte zwischen Veronica
und Bainbridge hin und her. »Ich bin überzeugt, dass es sich hier um das
gleiche Virus handelt. Offenbar wurde es aus Indien eingeschleppt, und wenn
mich meine Verletzungen nicht umbringen, dann werde ich wohl weiterleben.« Er
spannte die Finger und runzelte die Stirn, als die Schmerzen in der Schulter
stärker wurden.
Bainbridge nickte. »Natürlich werden Sie weiterleben, guter Mann.«
Er machte ein ernstes Gesicht. »Natürlich werden Sie das.« Er klopfte Veronica
beruhigend auf die Schulter und lächelte. »Wir wissen doch alle, dass der Knochenflicker
wahre Wunder wirken kann, nicht wahr?«
Newbury seufzte. Die Droschke polterte in Richtung Bloomsbury zu dem
geheimnisvollen Chirurgen, der, wenn man Bainbridges Versicherungen Glauben
schenken konnte, alles wieder in Ordnung bringen würde.
20
Als die Droschke vor dem Haus des Knochenflickers in
Bloomsbury anhielt, ging bereits die Sonne auf und verbrannte den Nebel zu
dünnen Dunstschwaden, die wie weiÃe Tentakel in der Luft schwebten. Newbury war
kurz nach der Abfahrt aus Whitechapel ohnmächtig geworden. Veronica hatte ihn
weiter versorgt, die Wunden abgedeckt und den Blutverlust eingedämmt, indem sie
ihm Streifen des Oberhemds als Verbände aufgelegt hatte. Inzwischen war sie
selbst voller Blut. Ihr Rock, die Bluse und die Hände waren mit klebrigen roten
Flecken bedeckt. Bainbridges Hochachtung stieg, weil sie sich ohne Rücksicht
auf ihr eigenes Aussehen für den Freund eingesetzt hatte.
Newburys Atem ging flach, er war sehr bleich geworden, und die Augen
lagen tief in den Höhlen. Wo die Hiebe der Wiedergänger ihn getroffen hatten,
zeichneten sich schwarze Blutergüsse ab. Bainbridge hoffte, der Knochenflicker
sei tatsächlich in der Lage, Wunder zu wirken. Newbury brauchte eines, wenn er
diese Verletzungen überleben sollte.
Der Polizeibeamte nahm den Gehstock an sich und öffnete die Tür der
Droschke. Vorsichtshalber spähte er nach links und rechts, ob jemand zuschaute.
Einige Frühaufsteher begannen mit ihrem Tagewerk, doch die StraÃe lag
überwiegend verlassen da. Er wandte sich an Veronica. »Warten Sie hier. Ich
gehe hinein und melde uns an.« Sie nickte stumm, und er stieg mit eingezogenem
Kopf aus, nickte dem Fahrer zu und eilte zu dem groÃen Haus hinüber. Es war ein
hohes, am Hang errichtetes Gebäude, drei Stockwerke hoch und sogar noch
unterkellert. Dieser Keller war ihr Ziel. Während Bainbridge die Treppe
hinaufstieg, setzte der Fahrer die schnaufende Dampfdroschke um die Ecke zurück
und hielt neben der eisernen Treppe an, die einen direkten Zugang zum
Untergeschoss bildete.
Mit dem Knauf des
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