Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
für eine belagerte Stadt und die Gespräche zynisch angesichts des Kriegsgeschehens. Zudeck-Perron hatte anfangs sein Missfallen darüber zum Ausdruck gebracht, sich dann aber sehr schnell korrumpieren lassen. Und auch sie selbst, die Fernsehreporterin Anica Klingor, heulte mit den Wölfen. Warum sollte man nicht gutes Essen und gediegene Drinks haben dürfen, so gut es sich nur beschaffen ließ, wenn man unter Bürgerkriegsbedingungen arbeitete? Und die Dinge, die im Hotel, freilich niemals veröffentlicht, ausgesprochen wurden, und die Anica anfänglich nur zynisch erschienen, enthielten – wie sich erwies – stets mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Hier konnte man lernen, wie die Dinge sich wirklich verhielten, anstatt wie sie sich angeblich verhielten. Das war es, was Anica seit jeher wollte. Und was sie noch viel mehr wollte, war, dass diese nackte Wirklichkeit publik wurde, hier, zu Hause, in aller Welt. Doch was in Tat und Wahrheit real ablief in dieser zerklüfteten Bergwelt, war etwas anderes als das, was man auf den Mattscheiben in Deutschland und anderswo zu sehen und zu hören bekam. Es war ein weiter Weg in die Herzen der Menschen. Von den Hirnen einmal ganz abgesehen. Und es wird ein weiter Weg, dachte sie, vom Evropa bis hin zu der Enklave Srebrenica.
Der Herr in der Hotelbar stellte sich als russisches Mitglied des UN-Generalsstabes heraus. Er trug das schmale Oberlippenbärtchen Doktor Schiwagos, das seinem Gesicht ein wenig maskenhafte Züge verlieh. Doch zeigte er sich zugleich als witzsprühender Gesprächspartner. Kommentarlos händigte er Anica die eingeschweißte Erlaubniskarte des UN-Sicherheitsstabes zur Teilnahme am Unternehmen Enklave Zepa aus, bevor er sich an die Journalisten wandte.
„Haben Sie die Video-Bilder von dem Obaljak-Gemetzel schon gesehen?“ fragte er augenzwinkernd.
Die Presseleute sahen erst sich, dann ihn mit großen Augen an. Zudeck-Perron schüttelte den Kopf.
„Das hat es noch nicht gegeben“, erklärte der Russe. „Die separatistischen Muslime schicken das Dementi, bevor die Bilder über die Satellitenschüsseln gerauscht sind.“
„Das kommt davon“, meinte Anica, „wenn der Medienwolf den Hals nicht voll kriegen kann und Gefahr läuft, mit Enten gefüttert zu werden.“
„Die ein hergelaufenes Moslem-Mädchen platzen ließ“, sagte Zudeck-Perron, und da er bemerkte, dass es Anica die Sprache zu verschlagen schien, fügte er sich räuspern hinzu: „Nun ja, ist ansonsten ganz annehmbar, die kleine Bosnierin, wenn ich das mal so...“
„Was ich dich noch fragen wollte, Zudeck-Perron“, unterbrach ihn der Russe, Anica zuvorkommend. „Hast du wenigstens die Zeitungen gelesen?“
„Welche? Einheimische oder Unsrige?“
„Serbische.“
„Wer kann schon kyrillisch lesen?“
„Ich zum Beispiel“, versetzte Anica.
„Bringt Ihr Süßer Ihnen mehr bei als diesen orthodoxen Firlefanz?“ fragte Zudeck-Perron beleidigt.
„Deine Kollegin hat recht“, kam der Offizier in der russischen Uniform mit dem blauen UN-Emblem einer Replik Anicas erneut zuvor und rückte seine Krawatte zurecht. „Es ist ein ungeheurer Nachteil. Heute kannst du ein Zitat des bosnischen Serbenführers drin finden. Bemerkenswert.“
„Sie meinen“, sagte Anica aufgeschlossen und merkte nicht, dass sie von der Person Zudeck-Perrons abgelenkt war, „dass er Stalin als sein großes politisches Vorbild bezeichnet?“
„Genau“, erwiderte der Soldat. „Ich habe fast mein Bier umgeschmissen, als ich das heute Morgen las.“
„Du solltest so früh kein Bier trinken“, riet Zudeck-Perron in jovialem Tonfall. „Hat er das wirklich gesagt? Oder ist das wieder so eine unverdauliche Ente?“
„Keineswegs“, gab Anica Antwort. „Ich habe den Ausschnitt des Interviews gesehen. Er hat sich sinngemäß so ausgedrückt: Er schätze den Führungsstil und das historische Sendungsbewusstsein Stalins, nur nicht seine unmenschlichen Methoden.“
„Dann ist er dumm wie ein Eimer Hundefutter“, äußerte Zudeck-Perron abschätzig. „So wie jeder, der von sich so redet.“
„Er ist so etwas wie der Regierungschef“, protestierte der Offizier.
„Von Russlands Gnaden“, warf Anica ein.
„Und was meint Boris dazu?“ fragte Zudeck-Perron. „Weiß er davon?“
„Freund“, antwortete der russische Stabsoffizier, schlug ihm auf die Schulter. „Trink noch einen. Aber mach einen Russen nicht für die Karriere dieses psychopathischen Psychiaters verantwortlich.“ Er
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