Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
eingesunkenen Boden gesehen, wo die glatte Schneedecke gelegen war und sich nurmehr ein langgezogenes Viereck abgesackter Erde abzeichnete...
Die Journalistin schob das Band in die Hülle, mit dem Ärmel wischte sie sich die Tränen auf den Wangen ab. Dabei fiel ihr Blick auf die Uhr. Sie seufzte, trat vor den Spiegel. Sie war frisiert, wie immer dezent geschminkt und trug eine gelbe Bluse mit dem stilisierten Berliner Bären. Noch einmal sah sie sich in die Augen und zog eine Schnute, sie zuckte die Achseln, durch den Spiegel fiel in ihren Blick der Tisch. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Heißhungrig machte sie sich über das Frühstück her, bevor sie die Bandkassette sowie einen großen Umschlag einsteckte und noch einen gleichsam automatischen Blick durch das Teleobjektiv warf. Der Himmel über den Bergen war strahlend blau. Kein Sterbewetter, dachte sie und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann der letzte Schuss gefallen war. Irgendwann mussten die Munitionsvorräte ja einmal ausgehen oder die Augen zufallen vor Müdigkeit hinter dem Zielfernrohr. Hoffnungsvoll und gleichzeitig bänglich beobachtete Anica die Straße. Weder Mensch noch Fahrzeug tauchten unten auf. Nirgends war auch nur ein Gesicht an einem Fenster des Apartmenthauses zu sehen. Diesmal wird nichts passieren, sagte sich die Journalistin und wollte schon das Auge von dem Fernglas lösen.
Da kam ein kleiner Hund um die Straßenecke. Er lief auf einen Müllhaufen zu, durchwühlte ihn nach etwas Fressbarem. Auch die Straßensperre wurde beschnüffelt, und da die braunweiße Mischlingshündin nichts fand, kauerte sie sich mit den Hinterläufen auf ein Stück Holz und bestrullte die Wegsperre mit einem scharfen Strahl. Die Schnauze im Straßendreck trottete sie weiter müde den Gehsteig entlang.
Plötzlich erschien ein zweiter Hund im Blickfeld des Teleobjektivs. Schnurstracks trabte er der Hündin hinterdrein und steckte die Schnauze unter ihren Stummelschwanz. Der Rüde mit schwarzem zotteligen Fell war ungleich größer als die kurzbeinige Hündin, die mit dem Kopf gerade die Unterseite seiner Brust erreichte. Der Rüde versuchte mit zerfransten Vorderpfoten die Hündin auf der Stelle zu halten, um sie zu decken. Anica beobachtete nicht ohne Genugtuung, dass es dem Rüden trotz mehrerer Versuche nicht gelang. Zu groß, ja geradezu lächerlich erschien ihr der Größenunterschied der dicht hintereinander trottenden Hunde. Ob die Tiere wahrnahmen, dass die Straße frei war von Autos und Passanten? Flößte ihnen das Angst ein, freuten sie sich darüber oder war ihnen das einerlei? Und wie empfanden sie das Fehlen jeglicher Nahrung? In die Fragen Anicas platzte wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein Schuss, und den Bruchteil einer Sekunde darauf brach der Rüde getroffen am Rinnstein zusammen. Mit einem zweiten Knall ereilte die Hündin das gleiche Schicksal. Wahnsinnig vor Schmerz wälzten die Hunde sich über das Pflaster. Jeder Stein warf ihr Wehgejaule dutzendfach zurück.
Das muss derselbe Heckenschütze gewesen sein, dachte Anica, der die Brotlaibe erschossen hat, und heute rief er sich in Erinnerung, indem er die einzigen Lebewesen über den Haufen knallte, die sich in dieser toten Straße regten. Die Hunde aus dem Blickfeld, verließ die Journalistin niedergedrückt das Stari Grad über den Parkplatz des Hinterausgangs.
19 Das Elektronik-Geschäft
Als sie das Gebäude der Nervenheilanstalt passierte, fiel der Reporterin auf, dass jetzt nicht mehr PSYCHIATRISCHE KLINIK auf dem Schild stand, sondern WILLKOMMEN IN SARAJEVO. Unwillkürlich musste sie auflachen und lenkte den Roller kopfschüttelnd um das Einschlagloch einer Granate. Gleichzeitig glomm hitzige Scham in ihr auf, weil ihr die Erinnerung durch den Kopf schoss an den Traum, in dem sie sich als Fliegergeneralin gesehen hatte. Du bist auch verrückt, schalt sie sich, sind dir deine Traumgesichte so peinlich, weil sie deine innersten Wunschgedanken offenbaren? Schluss jetzt, rief sie sich zur Ordnung, das Leben im Krieg erfordert es manchmal für eine Journalistin, ihr Gehirn einfach mal abzuschalten.
Unweit einer der guterhaltenen Nekropolen, deren Stecci kaum Anzeichen von Erosion aufwiesen, mündete die Gasse, die Anica befuhr, ins Basarviertel, wo sich das orientalische Handwerker- und Händlerleben abspielte, wo Gold-, Silber- und Kupferschmiede in ihren Werkstätten Schmuck und Treibarbeiten feilboten. Die Läden besaßen die Form flacher quadratischer
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