Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
kann nicht mehr geschehen, als bereits geschehen ist. Sie fürchten die Bora, die Zerstörungen aus Mitleid für die Menschheit und die Welt. In ihnen ist der schreckliche, kalte Fallwind bereits; sind die Trümmer erlebt, ist das Desaster überwunden.“
„Wir Westler sagen einfach: `The show must go on´ oder `Das Leben geht weiter´.“ Ihr Blick fiel auf die Tageszeitung und einen kleinen Artikel, der über die Flucht eines Patienten aus einer geschlossenen Anstalt berichtete. Er hatte noch das Schild PSYCHIATRISCHE KLINIK abmontiert und durch eine Tafel mit der säuberlichen Aufschrift WILLKOMMEN IN SARAJEVO ersetzt.
Raif sah auf die Uhr und stellte den Fernseher ein. Der Aufruf zur Blutspende wurde wiederholt. „Propaganda-TV“, brummte er abschätzig. „Zufällig kenne ich die jungen Leute, doch die Burschen selbst kennen sich nicht untereinander. Beide wohnen in einem anderen Stadtteil, Mirko ist orthodoxer Christ, Damir hingegen Muslim. Beide sind Angestellte, die sich als moderne Bürger verstehen und sich nach Frieden sehnen. Beider Chefs sind Geschäftsfreunde und meine Kunden, und von Mirko und Damir weiß ich, da sie bei Gelegenheit bei mir Firmenaufträge erledigen, dass sie seit Monaten kein Gehalt ausbezahlt bekommen haben. Deswegen ist Damir gezwungen, Blut gegen Entgelt zu spenden, obwohl er gelegentlich Geld macht als Stricher, ebenso wie auch Mirko, der von einem seiner Freier geprellt und niedergestochen wurde. Und beide ahnen nicht, dass die zwei Geschäftsleute in diesem Moment ihren Aufenthalt in Deutschland haben und von dem Geld leben, das sie Mirko und Damir sowie weiteren Kollegen der beiden und auch mir schuldig geblieben sind. – Damir ist übrigens der entflohene psychisch Kranke aus der Zeitung; er ist durchgeknallt, als er den Leichnam seines Vaters gefunden hat, der einige Tage zuvor entführt worden war. Jetzt macht er wahrscheinlich rachedurstig die Straßen Sarajevos unsicher.“
Raif ließ seine Geschichte auf die sprachlose Journalistin wirken, stellte den Fernseher ab, stattdessen ein uraltes Radio ein. Ein Funkgespräch quäkte über den Äther.
„...straße gegenüber dem Hotel Stari Grad sitzt mindestens ein Heckenschütze. Fast ein Dutzend Passanten sind heute schon erschossen worden. Nehmt den verdammten Sniper in die Zange und macht ihn fertig. Ende.“
„Wie bitte? Ich kann Sie nicht verstehen. Ende.“
„Ihr sollt sofort das Haus umstellen, auf dem mindestens ein Heckenschütze sitzt. Eliminiert ihn! Ende.“
„Ich habe keinen Ton verstanden. Hören Sie...? Hallo...?!“, kam die Antwort mit spöttischem Unterton.
„Heckenschützen sollt ihr ausschalten, verflucht!“ wiederholte die Stimme gequält und erbittert den Befehl. Schließlich war die Verbindung unterbrochen.
„Unvorstellbar, aber wahr“, kommentierte Raif. „Die Heckenschützen töten also unschuldige Menschen unter dem Schutz von Militärangehörigen, die ihre Befehle anstatt von gesetzlicher Seite plötzlich von religiösen Fanatikern entgegennehmen.“ Er drehte sich eine Zigarette und sagte unvermittelt: „Irgendwann in nächster Zeit, vielleicht schon morgen, wird in der Gegend um die Enklave Srebrenica irgendetwas passieren, was von allergrößtem Interesse für uns sein dürfte. Ob du Chance hast, dann dabei zu sein?“
Anica dachte an den Colonel mit seinen Andeutungen bezüglich der „großen Sache“, die sich in Nordost nahe der gefährdeten Schutzzone Srebrenica abspielen würde. Es war nicht das erste Mal, dass sie von Raif einen derartigen Hinweis erhielt. Dies und die Tatsache, dass sie ihm regelmäßig Material zuspielte, hatte zu einem weder schriftlich noch mündlich artikulierten Vertrag zwischen ihnen geführt. Noch nie aber war es vorgekommen, dass eine Quelle quasi von zwei verschiedenen Seiten antizipiert wurde. Sie sah ihn fragend an. „Kannst du mir in etwa sagen, was in Srebrenica vor sich gehen wird und an welcher Art Aufnahmen dir gelegen ist?“
„So fragt man Leute aus“, bemerkte Raif. Er hob gemächlich die Schultern und verzog das Gesicht dabei zu einer Grimasse. „Null Ahnung. Es wird auch nicht unbedingt in, sondern eher nahe bei Srebrenica passieren. Die Enklave selbst ist eine der garantierten UN-Schutzzonen. Doch wenn es soweit ist, werden wir vor allem unter ausländischen Journalisten die Nachricht verbreiten, dass Hydra, die mehrköpfige Bestie, wieder auferstanden ist. Mehr kann ich jetzt nicht dazu sagen.“ Anica schwieg seufzend,
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