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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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gealterte muslimische Frauen mit bunten Kopftüchern, es fuhren Kinder – auf jedem Fahrzeug sechs, acht, ja zehn kleine schwarzhaarige, dunkelhäutige, staubbedeckte Kinder mit wachen, vor Schrecken geweiteten Augen. Noch mehr Leute jedoch schleppten sich mit ihrer armseligen Habe neben den Fahrzeugen her.
    Unter den zerlumpten Greisinnen, Greisen und Kindern sah Anica durchs Teleobjektiv mitunter junge Frauen in modischen Mänteln, die in den wenigen Tagen des Marsches zerschlissen und über und über verstaubt waren, und sie trugen moderne, doch völlig in Unordnung geratene, staubbedeckte Frisuren. In Händen hielten die Menschen Bündel und Bündelchen, und die vom Schmutz geschwärzten, vor Müdigkeit und Hunger zitternden Finger waren verkrampft. Am Schluss schlurften Gestalten mit ausgemergelten Gesichtern, nur noch Haut und Knochen, und mit Bärten, die bis zu den Augen hinaufwucherten, die zugleich Mitleid und das Gefühl einer sonderbaren Fremdheit hervorriefen, als wären sie nicht Menschen wie die Bootsinsassen selbst, sondern Wesen, die Menschen äußerst ähnlich und doch von ihnen verschieden waren, mit Eigenschaften, die Menschen niemals haben konnten. Ein einäugiger, flaumbärtiger Mensch fiel Anica darunter auf, der mit den Fingern tastend das Verheilen der vielfältigen Wunden an seinem zusammengeflickten Schädel zu verfolgen schien, und eine nasenlose Frau, bleich und starr wie eine antike Göttin.
    Der heftige Schmerz, den Anica empfand, verursachte sowohl ungeduldiges Verlangen, unverzüglich zu helfen, diese Wesen wieder zu wirklichen Menschen zu machen, als auch das Bewusstsein der Ohnmacht, das im Handumdrehen zu bewerkstelligen, und außerdem die beklemmende Einsicht, dass es für viele von ihnen, insbesondere Kinder und Greise, längst zu spät sein würde.
    Für den Fluss und das Fahrzeug mit seiner kriegerischen Besatzung darauf hatten die Flüchtlinge keinen Blick übrig. Anicas Augen schweiften gedankenvoll über den kurzen, steilen Horizont. Auf den Bergrücken jenseits des anderen Ufers verbargen sich die angsteinflößenden Verbände des Feindes. Was taten und dachten sie, worauf hofften sie? Was sie freilich dort, jeder für sich, auch denken mochten, insgesamt dachten sie genau das Gegenteil von dem, was die andere Seite dachte, richtiger gesagt das gleiche – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Jeder Wunsch der einen Seite traf auf genau den entgegengesetzten der anderen. Alles, was für die einen gut war und sein würde, war für die andere schlecht und würde es bleiben. Das würde bis zum Ende des Krieges so sein, bis zur letzten Sekunde. Denn der Krieg war wie eine rollende Münze: Wie lange sie auch rollte, irgendwann einmal musste sie kippen. Kopf oder Adler – eine Seite würde obenauf sein, die andere unten. Da gab es kein Erbarmen für die jenseitigen, und diese kannten keines für die hiesigen. So dachten beide Seiten, und es kam ihnen überhaupt nicht in den Sinn, dass am Schluss beide als Verlierer dastehen könnten.
    Unvermittelt verengte sich der Talgrund, Strudel und Stromschnellen wurden sichtbar. Jähe Dunkelheit breitete sich in dem Canyon aus. Die Helligkeit der oberen Bergflanken vermochte nicht bis auf die Sohle der Schlucht vorzudringen. Der wulstige Bug des Schlauchbootes tauchte in die schäumenden Wellen ein. Die Amateuerrafter, gleichwohl erfahrene, abgehärtete Männer, die ihr Handwerk von der Pike auf beherrschten, legten Ruder und Außenbordmotor, manövrierten das Gefährt geschickt durch Sog und Wasserwirbel.
    Fern über dem Taleinschnitt von der vordersten serbischen Linie bis hin zum Horizont, der jetzt nur zu ahnen war, stand einige Kilometer tief die Wand der Detonationen. Bald ballten sie sich zusammen, bald zerteilten sie sich, um wieder eine himmelhohe Wand aus Rauch zu bilden, und vor diesem Hintergrund flogen, nur mit Feldstecher und Teleobjektiv auszumachen von dieser Stelle aus, schwarz auf schwarz, Balken, Bretter, Schienen und Steine hoch empor, aufgewirbelte Trümmer, die eine Sekunde vorher noch menschliche Behausungen gewesen waren. Die Geräuschkulisse zu dem Spektakel im Hintergrund lieferte der tosende, gischtende Fluss.
    Der Scheinwerfer des Bootes flammte auf. Sein Lichtstrahl tanzte an den Felswänden der Steilufer auf und ab. Anica beobachtete, wie der Lauf des Maschinengewehrs dem Scheinwerferstrahl folgte. Dann und wann tauchte der Einschnitt eines kleinen Seitentals auf. Doch am Ufer tat sich nichts. Die Reporterin war

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