Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Verstand, er führt dich über die Schwelle des Wahnsinns. Viele Menschen in diesem Land leiden Hunger. Zu meinem Bruder, der ein ehrsüchtiger Kämpfer war, habe ich gesagt: `Du musst durchhalten, du kannst dem Feind nicht entfliehen und nicht der Vorsehung. Außer wenn du sie besiegst.´ Von seinem leeren Magen getrieben ging mein Bruder heimwärts, weil er den Appellen glaubte, die sie im Radio verbreitet haben. Er wurde zehn Kilometer vor dem Elternhaus gefangengenommen und starb in Lapovo den Hungertod.“
„Du hast deinen Bruder sehr geliebt, ja?“ fragte Anica.
Lepa Brena nickte schluckend. In ihre Augen trat trotziger Glanz, sie blickten von tief innen her, als wollten sie alles interpretieren, was sich mit Worten nicht ausdrücken ließ.
„Und du liebst diesen MG-Schützen, der dein Freund ist, nicht wahr?“
„Leider ganz umsonst“, seufzte das Mädchen. „Er liebt eine andere, obwohl er wiederum auch auf keine Gegenliebe stößt. Er glaubt sie zu gewinnen, wenn er in den Kampf zieht, um für sie Haus und Land zurückzuerobern. Er schwor sich und ihr, den Krieg zu überleben. Ich kann das freilich nicht.“
„Aber sicher gibt es einen Mann in deinem Leben, schöne Brena“, nahm Zudeck-Perron sanft, mit kleinem Lächeln das Wort, „der sich in dich verliebt hat, bestimmt sogar mehrere...“
Seine unbeweglichen grauen Augen schienen Anica wie zwei Klappen, die nichts nach innen dringen ließen. Ihr kam plötzlich der Gedanke, dass es Augen gibt, die geben, und Augen, die nehmen, selten sogar beides, sowie solche, die undurchdringlich sind – von innen wie von außen.
Die schöne Brena schüttelte traurig den Kopf. „Niemals habe ich jemandem Hoffnung gemacht außer... Ein kroatischer Major machte mir einmal Avancen, und er erschien mir nicht einmal unsympathisch. Sehr freundlich und galant war er, sagte, dass ihm meine Haare gefielen – dabei waren sie schon so kurz, wie ich sie jetzt trage – und mein kühnes, unverdorbenes Gesicht hätte es ihm angetan, mein fester energischer Gang... Was er sich bloß dabei gedacht hat...?“ Das Mädchen zuckte die Achseln und öffnete ihre rechte Faust, darin sie ein kleines Fotoporträt hielt. Es zeigte den kroatischen Offizier mit dem rotblonden Riesenschnurrbart. „So ähnlich sah mein großer Bruder auch aus. Aber er war nicht fuchsschlau, so wie der Offizier, mit dem wir verbündet sind. Major Sinovic will das Bild vielleicht wiederhaben. Es ist aus dem Medaillon, das er mir damals verehren wollte, das ich freilich zurückwies.“
„Ich verstehe“, sagte Zudeck-Perron mit Wärme in der Stimme. Gewinnend lächelnd sah er dem Mädchen in die Augen. „Du bist die tapfere Schwester eines kühnes Bruders.“
„Sie sind sehr freundlich“, gab das Mädchen zurück und erwiderte seinen Blick mit einem strahlenden Lächeln. „Wie ist Ihr Name?“
„Paul“, antwortete Zudeck-Perron und sein Lächeln erstrahlte zu Herzlichkeit. „Lächelst du jedermann so an?“
„Nein, bestimmt nicht, niemals.“
„Aber jetzt lächelst du mich an.“ Er trat einen Schritt auf das Mädchen zu.
„Sie müssen mich nun entschuldigen“, stieß Lepa Brena ein wenig heftig hervor, trat einen Schritt zurück; Zudeck-Perron stand ihr zu nahe, und sie hatte es nicht gern, wenn ihr ins Gesicht geatmet wurde. Freilich stand das Lächeln noch in ihren Zügen, böse schien sie ihm nicht zu sein. Ihre Brust hob und senkte sich in verschnellertem Rhythmus.
„Du willst gehen?“ fragte Zudeck-Perron; je länger er das Mädchen ansah, desto schwerer fiel ihm das Atmen. „Bleib“, bat er, „bleib, schöne Brena.“
„Nein“, versetzte das Mädchen. Sein Lächelnd erstarb fast gänzlich. „Sie müssen mich jetzt entschuldigen.“ Es entfernte sich mit staksigen Bewegungen, doch zugleich auch so anmutig wie ein flüchtendes junges Reh.
„Die hat was, die Kleine“, sagte Zudeck-Perron kaum hörbar vor sich hin.
„Wie bitte?“ fragte Anica nach, und sie beobachtete erstaunt ihren Kollegen, der mit geistesabwesendem Blick in die Dunkelheit des Hinterzimmers starrte, wo die Gestalt des Mädchens zwischen Mauertrümmern verschwand. Lolita-Paule, dachte die Journalistin, das Warten hat er nie gelernt, aber bei den Mädchen vergeudet er wirklich keine Sekunde. Freilich hatte sie im Krieg, wo Sterben jeden Augenblick möglich war, schon öfters rasche Liebe beobachtet bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Sie lehnte sich aus dem glaslosen Fenster, ihr Blick fiel auf das
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