Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Noch begriff sie nicht recht, was vor sich ging, erst ganz allmählich, als ein eigentümlicher Brandgeruch ihr in die Nase stieg. Ein Geschoss oder Granatsplitter hatte ihr Ohr gestreift, den Türrahmen durchbohrt, den Stuhl gespalten, eine zehn Zentimeter tiefe Kerbe in die Bettkante geschrammt und war durch die Zimmertür wieder hinausgeschossen.
Anica war entsetzt über die maßlose Geschwindigkeit, mit der alles passiert war. Das Feuer im Ohr hatte sie gespürt, lange bevor ihr Bewusstsein voll erfasste, dass ein Geschoss in ihr Zimmer eingedrungen war. Tödlich getroffenen Menschen, dachte die Reporterin, kommt wahrscheinlich gar nicht zu Bewusstsein, was ihnen widerfährt; sie sterben, ehe die Information über das sausende, tödliche Geschoss ins Gehirn dringen kann.
Verstört starrte sie hinterher. Der Fußboden, das Bett, ihr Haar, Zeitschriften und Bücher, alles war mit Holzspänen übersät. Fassungslos verfolgte sie die Spuren des unheimlichen Geschosses. Der Stuhl sah aus, als wäre ein Höllenhammer auf ihn niedergedonnert. Einige Nägel waren herausgefallen und lagen zu unförmigen kleinen Metallklumpen geschmolzen am Boden.
Das ist also meine erste persönliche Begegnung mit einem Geschoss, dachte Anica. Bisher habe ich mir immer vorgestellt, dass eine Kugel oder ein Granatsplitter auf gerader Bahn fliegt, bis sie auf ein Hindernis trifft und vielleicht als Querschläger weiterfliegt. Aber dieses Teufelszeug ist besonders erschreckend und hetzt durch die Gegend wie eine in Panik geratene Kanalratte. Meine kriminologisch-strategische Hypothese, dass ich in horizontaler Lage vor Schüssen sicher sein könnte, ist mit einem Schlag zunichte. Ich muss herausfinden, wie und wo dieses abscheuliche Ding hereingekommen ist.
Darüber vergaß Anica sogar beinahe ihre Angst. An der Wand waren Kalk und Putz abgeplatzt. Von dort aus musste es abgeprallt und durch die Tür geflogen sein. Aber von wo kam es her? Fensterläden und -scheiben sahen unversehrt aus, und bevor die Journalistin sie einer näheren Untersuchung unterziehen konnte, explodierten dröhnend die nächsten Geschosse, sie musste die Ermittlungen einstellen. Und weil sie jetzt wusste, dass die Flugbahn der Geschosse wesentlich komplizierter war, als sie mit ihrer Kriminologenweisheit angenommen hatte, packte sie blankes Entsetzen, und ihre Nervenstränge fühlten sich an als würden sie geschlagen wie die Stahlsaiten einer Zimbal von Hammerklöppeln. Die Geschosse hatten verschiedene Töne, die einen pfiffen, andere krachten trocken oder rollend, wieder andere zischten wie Nattern und weitere heulten wie Wölfe, eine unaufhörliche Kette Horrormelodien, unterbrochen durch gewaltige Paukenschläge schwerer Explosionen. Anica floh für den Rest der Nacht in einen als Schlafzimmer eingerichteten Kellerraum der Pozderacs in die Arme von Raifs Frau.
„Kommst du endlich?“ brummte Raif mürrisch, drehte sich auf die Seite. „Wir müssen auch mal schlafen.“
34 Ein Bürgerkriegsmorgen
Am frühen Morgen nach einem kargen Frühstück, der Sonnenball lehnte sich noch auf einen Berggrat, traf Anica auf dem Weg zu einem Termin Dragan beim Einkaufen. Sie schämten sich, was sie alles für D-Mark erhielten. Als Anica Avocados aussuchte, nahm Dragan sie ihr aus der Hand, legte sie zurück, wählte andere. „Es ist Zeit für die daumenweichen Früchte“, erklärte er die grüne Schale streichelnd, und er sah sehr jung dabei aus. „Avocados sind wie Frauen, man kann nur die reifen wirklich genießen.“
Anica lächelte bei dem Gedanken, dass ihr Freund ein paar Jahre jünger war als sie, es hatte nie eine Rolle gespielt, und sie hatte es zufällig bei einem Blick in seinen Pass erfahren.
„Warum“, fragte sie, „stehen wir im Gegensatz zu anderen auf der Sonnenseite des Lebens?“
„Warum steckt unser bewusstes Ich in diesem unseren Körper?“ fragte Dragan zurück. „Warum bin ich Ich und warum bist du Du? Schicksal? Fügung? Zufall?“
„An alles das glaube ich nicht“, entgegnete Anica, die sich schon lange für Zusammenhänge interessierte. „Alles hat seine Ursache, die sich feststellen lässt, wenn man nur beharrlich genug danach forscht.“
„Merkst du denn nicht, Anica, in welche Verstrickungen du immer gerade dann gerätst, wenn du versuchst, den Dingen auf den Grund zu kommen?“
Anica sah Dragan mit einer hochgezogenen Augenbraue an, und als sie auf die Straße traten, bemerkten sie ein paar Köpfe, die hinter der
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