Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Friedensverträgen geführt haben. Ich weiß manchmal auch nicht...“
„Wird denn Gewalt durch rationale Entscheidungen hervorgebracht?“
„Elementar erwächst Gewalt aus dem Selbsterhaltungstrieb, der allen Geschöpfen dieser Erde angeboren ist, aus der Übelkeit beispielsweise, die einen halbverhungerten Menschen beim Anblick eines sich vollfressenden Fettwanstes befällt.“
„Oder der Unzufriedenheit eines Menschen, der die Werbung im Fernsehen konsumieren muss, ohne der begehrten Waren und Güter in Wirklichkeit teilhaftig zu werden.“
„Also entsteht Gewalt dort, wo geistige Einstellung und Selbsterhaltungstrieb aufeinanderprallen. Unzufriedenheit schafft Anfeindung. Ein leichtes Spiel für Rattenfänger aller Art. Und da sind die weniger rational Handelnden die schlimmsten. Also Ideologen und Religionsführer zum Beispiel. Das stimmt doch, ja, Anica?“
„Ich weiß nicht, Raif.“ Sie zuckte die Achseln.
„Ich weiß, dass ich nicht weiß, was ich nicht weiß, aber niemals habe ich mich total auf eine Idee versteift, aus Angst, ich könnte dann ohne sie die Orientierung verlieren. Und nie habe ich eine als wahr erkannte Tatsache mit einer ideologischen Lügensoße gewürzt, um sie mir selbst dadurch bekömmlicher zu machen. Außer in meiner frühen Jugendzeit vielleicht; doch dafür habe ich gebüßt und mir das Vertrauen an mich selbst erst auf mein Versprechen hin wiedergegeben, es fürderhin besser zu machen. Noch immer träume ich meine Träume und halte sie für nichts anderes als für Träume. Und ich hüte mich stets, aus der Wahrheit ein Idol zu machen, ziehe es vor, ihr den bescheideneren Namen der Wirklichkeit, wie ich sie empfinde, zu belassen. Ich glaube, ich werde ein bisschen weniger dumm sterben, als ich geboren wurde.“
„Entschuldige bitte“, sagte Anica, weil sie ein Gähnen nicht hatte unterdrücken können. „Das ist ja alles völlig richtig. Doch jetzt sagen wir erst mal Gutnacht.“
33 Schlaf unter Beschuss
Die Kaskade der Geschützfeuer schüttete unvermindert heftig weiter, als die Journalistin im Gästezimmer übte: Einschlafen unter Artillerie- und Maschinengewehrgeknatter.
Ich habe schon unter härteren Bedingungen gelebt, sagte sie sich, um mit ihrer Angst fertig zu werden, habe an Orten geschlafen, wo Kälte und böse Geister wohnen. Meine Seele hat gelernt, sich mit Qual und Leiden abzufinden. Einmal bin ich sogar gezwungen gewesen, unter grellem Scheinwerferlicht zu nächtigen, das genau auf mein Gesicht gerichtet war. Jetzt muss ich üben, auf dem Schlachtfeld zu schlafen.
Die Beschießung nahm kein Ende. Verzweifelt zählte Anica die Abschüsse, so wie man Schafe zum Einschlafen zählt. Der Schlaf lag in Schussweite und trotzdem unerreichbar, die Journalistin fühlte sich todmüde. Nach dem dreißigsten Knall tutete plötzlich eine Autohupe auf, ein ungewohntes Geräusch inmitten der donnernden, kreischenden, trommelnden Schüsse, ein unvermuteter Klang, so menschlich, so vertraut. In Anicas Ohren klang er wie ein Mensch, der von einem Schuss getroffen aufschreit. Zwei, drei Minuten lang jaulte das Auto in den höchsten Tönen, ganz allmählich leiser werdend wie ein im Sterben liegender Mensch. Schüsse prasselten wie Trommelfeuer, die Hupe verstummte, starb sozusagen ab.
Anica raffte ihre Willensstärke zusammen und alles, was sie über Yoga wusste, und begann, die Glieder ihres Körpers einzeln zu entspannen. Als wäre ihr Körper eine Marionette, befahl sie ihrem linken Bein zu schlafen, dann dem rechten. Ein Körperteil nach dem anderen schickte sie auf die Reise in die vorläufigen Jagdgründe des Traumes und Schlafes jenseits von Raum und Zeit. Das Experiment scheint zu gelingen, dachte sie nach einer Weile bei sich, ich brauche nur noch etwas Übung.
Das Nervengeflecht, das sie Strang für Strang zusammengelesen und gebündelt hatte und das ihr Herrschaft über ihre Gliedmaßen verlieh, wurde durch eine wuchtige Detonation von der Autorität ihres Gehirns losgerissen. Sie glaubte, durch diesen Fehlschlag einen Rückfall zu erleiden. Die Explosionen dröhnten mit einem Mal lauter, als sie in Wirklichkeit waren. Unvermerkt sauste ein merkwürdiger Fremdkörper durchs Zimmer, ein hitzig vitales Wesen von angsteinflößender Dynamik. Anicas rechte Ohrmuschel fühlte sich plötzlich heiß an, sie hörte das Geräusch splitternden Holzes an der Tür, dann am Stuhl, schließlich an der Kante des Bettes, auf dem sie lag, und schon wieder an der Tür.
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