Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Straßenecke verschwanden. „Wir werden beobachtet“, raunte Anica ihm zu. Die Schrecken der vergangenen Nacht steckten ihr noch höllenstark in den Gliedern.
Sie zu beruhigen, griff Dragan mit der Hand nach der Ihrigen. „Bitte fass mich jetzt nicht an“, fauchte sie ihn an, und in flehenden Tonfall übergehend, fügte sie hinzu: „Das könnte sie dazu bringen, auf uns beide loszugehen.“
Allein und in gehörigem Abstand voneinander schritten sie den Gehsteig entlang. Wenn sie sich umdrehten, sahen sie, dass die lauernden Köpfe keineswegs verschwunden waren.
„Offenbar hat ganz Sarajevo allem, was mit Liebe, Harmonie und Zärtlichkeit zu tun hat, den Kampf angesagt“, sprach Dragan in ruhigem Ton. „Seltsame Regeln gelten nun in dieser Stadt: Wenn ich dich jetzt umarme und küsse, sind alle, die hinter der Straßenecke oder irgendwo auf den Dächern hocken und uns beobachten, schon gegen uns eingenommen. Und zwar nicht, weil wir unterschiedlichen Konfessionen und Staaten angehören, sondern einzig und allein, weil wir uns lieben. Bei einem Angriff auf uns würde sich niemand finden, der auf unserer Seite wäre. Falls ich dich aber – nur als Beispiel – ohrfeige, greift bestimmt kein Mensch ein, und zwar nicht, weil sie denken, dass du meine Frau bist, sondern weil Hass und Gewalttätigkeit in dieser Stadt zum Alltag geworden sind. Niemand regt sich darüber auf. Liebe und Zärtlichkeit hingegen stellen für sie eine Bedrohung dar. Wenn wir uns streiten, hören sie sofort auf, uns zu belauern, weil es ihnen die Gewissheit gibt, dass wir genauso sind wie sie. Liebe erregt Aufmerksamkeit, Neugier, Sehnsüchte. Manchem hier ist von klein auf eingeimpft worden, die Liebe sei unmoralisch, unreligiös, lasterhaft. Und wenn erst der Sinn für Liebe abgetötet worden ist, gehen auch Gerechtigkeitsempfinden und Wille zum Aufbegehren verloren. Die Gefühle der Menschen werden von den Regierenden regelrecht abgewürgt.“
„Unsere Liebe verpflichtet uns dazu, uns für die Rettung Sarajevos einzusetzen“, sagte Anica. Sie hatte sich gefangen, wollte einlenken. „Auf einem ausbrechenden Vulkan kann man schließlich keine Bäume pflanzen und auf einer Zeitbombe kein Haus bauen.“
„Ich fürchte, Anica, dass sich im Augenblick in dieser Stadt immer jemand findet, der bereit ist, unsere Liebe zu jagen.“
Ein älterer Mann mit einem leeren Kanister und einer Stofftasche, darin ein wenig dürres Holz, kam auf sie zu. Anica erkannte in ihm den Mann, der seinerzeit beim Verrichten der Notdurft in ihrem Teleobjektiv aufgetaucht war. Er lief barfuß, war ärmlich gekleidet, und als er zwischen den beiden vorbeiging, kniff er die schmalen Augen noch mehr zusammen.
„Siehst du, Anica“, flüsterte Dragan. „Auch die Armen sind gegen die Liebenden.“
Anica blickte dem barfüßigen Mann nach. Er wirkte verstört, auch hungrig. Unversehens strauchelte der Mann, stürzte zu Boden. Sie und Dragan liefen zu ihm, gefolgt von ihren `Wächtern´; die zehn Meter, die sie von ihm trennten, waren mit einem Mal ein ganzes Leben lang. Die Augen waren geöffnet, doch blickte der Greis durch die Menschen über ihm hindurch. An seinem Hinterkopf quoll Blut durch sein kräftiges Grauhaar. Entsetzt fuhren sie empor und herum. Da musste irgendwo ein Heckenschütze hinter einem Gewehr mit Schalldämpfer hocken. Jeden Augenblick konnte einer ihrer Köpfe von einer Kugel getroffen werden, und sie sahen nichts als Hunderte von schwarz gähnenden Fensterlöchern in Reihen von hohen Gebäuden zu beiden Seiten der Straße.
Ein zweites Geschoss schlug dicht vor ihnen ein, markierte eine imaginäre Linie. Da erfassten Anica und Dragan sofort, dass der Schütze sie in ihre Grenzen weisen wollte. Und sie begriffen auch, dass sie diesen Mann sterben lassen sollten, falls er nicht bereits tot war. Der Heckenschütze wollte Terror verbreiten, nichts als blanken Schrecken, er wollte ihre Liebe ermorden bei lebendigem Leibe, indem er sie traumatisierte, und er scheuchte die Massen zurück in die Gefängnisse ihrer lädierten Wohnstätten. Innerhalb einer Minute war die Straße völlig leer gefegt.
35 Das Evropa
Das Hotel hatte früher als eines der bevorzugten Häuser am Platz gegolten, war gar weltberühmt geworden anlässlich der Olympischen Winterspiele, da die Jugend der Erde mit friedvollen Waffen, wie beim Biathlon, ihre sportlichen Kämpfe austrug. Das war gerade erst vor einem Jahrzehnt gewesen, und jetzt konnte Anica das Gebäude
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